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Zurückweisungen: »Rechtsbruch mit Vorsatz«
Was tun, wenn sich Regierungsvertreter nicht ans Recht halten?
In den kommenden Tagen und Wochen ist damit zu rechnen, dass weitere Asylsuchende gegen ihre Zurückweisungen an den deutschen Grenzen klagen werden. Sie werden, da sind sich Asylrechtsexpert*innen weitgehend einig, auch Recht bekommen. Das Berliner Verwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung der Klage von drei Somalier*innen viel Grundsätzliches ausgeführt. Dem Urteil zufolge verstoßen die Zurückweisungen gegen Europarecht und haben Geflüchtete das Recht auf ein ordentliches Dublin-Verfahren, in dem geklärt wird, in welchem Land sie ihren Asylantrag stellen.
Spätestens wenn weitere Klagen positiv entschieden sind, werden auch Bundeskanzler Friedrich Merz und Innenminister Alexander Dobrindt nur noch schwerlich argumentieren können, dass nur Einzelfälle entschieden worden seien. Schon jetzt kritisieren Jurist*innen, dass die Bundesregierung dennoch an den Zurückweisungen festhält. Bijan Moini, Legal Director bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), sagt im Gespräch mit »nd«, dass die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts »klar über den konkreten Fall hinausreicht«. Wenn Dobrindt und andere sie zum Einzelfall »kleinreden« würden, setzten sie »faktisch kaum erreichbare Voraussetzungen für die eigene Bereitschaft, sich an das Recht zu halten.« Mit deutlichen Folgen, wie Moini sagt: »Das stellt die Gewaltenteilung infrage und ist ein gefährlicher Präzedenzfall in einem besonders sensiblen Rechtsgebiet.«
Noch deutlicher äußert sich Maximilian Pichl, Professor für Soziales Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain und Vorsitzender der Vereinigung demokratischer Jurist*innen (VDJ). Zum Berliner Verfahren sagt Pichl, es habe gezeigt, dass die Bundesregierung »kein einziges rechtliches Argument auf ihrer Seite« habe. Dazu, dass die Zurückweisungen fortgesetzt werden, hat Pichl eine klare Einschätzung: »Der Innenminister begeht also einen klaren Rechtsbruch mit Vorsatz.«
Dass Vertreter*innen des Staates Gerichtsurteile nicht umsetzen, ist nicht neu in Deutschland. 2018 verweigerte die Stadt Wetzlar der NPD die Nutzung ihrer Stadthalle – trotz einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Im selben Jahr wurde in Nordrhein-Westfalen der Islamist Sami A. abgeschoben, obwohl ein Gericht zuvor entschieden hatte, dass er nicht abgeschoben werden darf. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul reagierte auf die Gerichtsentscheidung mit Schelten. Gerichte müssten auch das »Rechtsempfinden der Bevölkerung« im Blick haben, die Entscheidung gegen die Abschiebung sei nicht nachvollziehbar. Nach massiver öffentlicher Kritik entschuldigte sich Reul schließlich für seine Aussagen. Er räumte ein, seine Äußerung könne »missverstanden worden sein«, und betonte, dass er dies bedaure. In Bayern schließlich weigerte sich die Landesregierung im Streit um Luftreinhaltepläne für München, Fahrverbote zu verhängen, wie es das Verwaltungsgericht angeordnet hatte. Zwangsgelder, die das Gericht anordnete, blieben ohne Wirkung. Das Verwaltungsgericht fragte daraufhin beim Europäischen Gerichtshof nach, ob es Behördenvertreter oder den bayerischen Ministerpräsidenten in Zwangshaft nehmen könne. Das Gericht antwortete, dafür sei das deutsche Recht entscheidend.
Sind Fälle wie die obigen mit der Fortsetzung der Zurückweisungen vergleichbar? Bijan Moini von der GFF meint, nur mittelbar. Die Bundesregierung verweigere nicht die Umsetzung einer konkreten Entscheidung, wie es bei den Luftreinhalteplänen der Fall war. Stattdessen stelle sie in Abrede, dass die Entscheidung übertragbar ist. »Faktisch ist die Wirkung aber viel größer, weil die Regierung dadurch eine zentrale, von allen seriösen Expert*innen von Anfang an für rechtswidrig gehaltene Praxis der Zurückweisung von Asylsuchenden fortsetzt«, erklärt Moini.
Maximilian Pichl antwortet auf die Frage nach der Vergleichbarkeit: »Schon länger ist in der Forschung und unter Juristen von einem exekutiven Ungehorsam die Rede, also dass Regierungen Recht ignorieren oder umgehen. Das nimmt mittlerweile systematischere Züge an und gefährdet insgesamt die Rechtsordnung«.
Der Begriff des Exekutiven Ungehorsams wurde geprägt von Philipp Koepsell, der für seine Promotion Fälle wie die obigen ausgewertet hat. Konsequenzen haben Amtsträger*innen in Deutschland nicht zu fürchten und die verhängten Zwangsgelder wandern oft von einer Haushaltskasse in die andere. Koepsell hat sich auch angeschaut, wie andere Länder mit dem Problem umgehen. In den USA können Behörden mit millionenschweren Zwangsgeldern belangt werden. Auch die persönliche Haftung von Amtsträgern ist möglich. In einem prominenten Fall wurde eine Standesbeamtin, die sich weigerte, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen, inhaftiert.
Italien hat einen anderen Weg gewählt. Hier können Gerichte einen Ad-acta-Kommissar einsetzen und benennen. Dieser Kommissar, meist hohe Verwaltungsbeamte oder ehemalige Richter*innen, übernimmt dann den entsprechenden Verwaltungsbereich und stellt einen rechtskonformen Zustand her.
In Deutschland stellte der ehemalige Justizminister Marco Buschmann vor einem Jahr ein Eckpunktepapier vor, das periodische Zwangsgelder vorsah. Ein Gesetz ist daraus allerdings nicht geworden. Bei der schwarz-roten Bundesregierung steht das Thema bisher auch nicht auf der Tagesordnung. Gute Zeiten für Rechtsbrecher im Innenministerium.
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