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Spreepark in Berlin: Die vergessenen Kriegsopfer Berlins
Eine historische Untersuchung deckt die Geschichte der NS-Zwangsarbeit am Eierhäuschen auf
An der Geschichte des heutigen Spreeparks mitten im Plänterwald waren viele Ostberliner*innen vermutlich noch selbst beteiligt. Zwischen 1969 und 2002 stand hier der Kulturpark Plänterwald. Nun wird der vormals einzige ständige Vergnügungspark der DDR auf Initiative des Berliner Senats neu belebt, nach altem Vorbild mit Riesenrad und Dinopark. Dass die Geschichte des Geländes allerdings weiter zurückreicht, verrät das seit 200 Jahren als Gaststätte genutzte Eierhäuschen. Am Abend des 5. Juni bot es Raum, sich erstmalig mit der Geschichte der NS-Zwangsarbeiter*innen auseinanderzusetzen, die ab 1942 direkt nebenan in zwei Baracken untergebracht waren. Besonders ist dabei nicht nur die Rolle des Bauträgers in der Erinnerungsarbeit, sondern auch der Zivilgesellschaft.
Thomas Irmer, Politologe und Historiker, erhielt den Auftrag von Grün Berlin, in Bau- und Firmenunterlagen gezielt zur Zwangsarbeit rund um das Alte Eierhäuschen zu forschen und stellte an dem Abend seine Ergebnisse vor. Irmer sei beeindruckt von dem historischen Interesse des Bauträgers. »Gerade in Berlin, wo wir viele historische Gebäude haben, die heute als Wohnloft, Büros oder neue Gründungsbauten genutzt werden, gibt es leider immer noch wenige Nutzende, die sich für die Geschichte dieser Orte in der NS-Zeit verantwortlich fühlen.«
Direkt neben dem Alten Eierhäuschen, wo seit den Siebzigern die Werkhalle steht, lebten während des Krieges bis zu 200 Zwangsarbeiter*innen. In den beiden Baracken im Plänterwald waren 1943 etwa 50 Prozent von ihnen Ausländer*innen, vor allem aus den Ländern der Sowjetunion, aus Polen, Serbien, Frankreich, der Niederlande und Italien. »Darunter waren sehr viele junge Menschen, neun Minderjährige«, sagte Irmer, es habe viele Mütter mit Kindern und Familien gegeben.
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Tätig waren die Zwangsarbeiter*innen in der Gustav-Genschow-Waffenfabrik in Treptow, seit 1930 ein Tochterunternehmen des größten deutschen Chemiekonzerns IG Faber. Sie produzierten Waffen für den Krieg, der ihre Heimatländer verwüstete und auch ihr Leben bedrohte. Thomas Irmer erklärte, die Zwangsarbeiter*innen seien gegen Ende des Krieges eine der größten noch in Berlin verbliebenen Gruppen, kämen aber im Gedenken an die Opfer der Luftangriffe kaum vor.
Während zweier Angriffe im Februar 1945 starben insgesamt über 40 Bewohner*innen des Barackenlagers am Alten Eierhäuschen, darunter viele Mütter mit ihren minderjährigen Kindern und Wim Stevens, ein niederländischer Zwangsarbeiter, dessen Tagebuch über seine Zeit im Plänterwald Grundlage für Thomas Irmers Forschung bot. Die Zwangsarbeiter*innen befanden sich in einem Dilemma, so Irmer. »Auf der einen Seite waren sie ihnen schutzlos ausgeliefert, auf der anderen Seite waren die Luftangriffe ihre einzige Perspektive auf das Ende der Zwangsarbeit.«
Roland Borchers, stellvertretender Leiter des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Schöneweide, ordnete Zwangsarbeit in Berlin historisch ein. Das Wissen darum lasse sich noch schlechter verleugnen, als etwa der Vernichtungskrieg oder der Holocaust. »Das hat jeder Deutsche gewusst«, sagte Borchers. Von den insgesamt 13 Millionen Zwangsarbeiter*innen in Deutschland waren etwa 500 000 in der Hauptstadt tätig und lebten in rund 3000 Lagern. »Ganz Berlin war voller Baracken«, sagte Borchers. Den größten Anteil machten ausländische Zivilist*innen aus, aber auch Kriegsgefangene und Deutsche waren darunter. Jüdische Zwangsarbeiter*innen verschwanden in den Betrieben zunächst hinter einer Trennwand und ab 1942 in die Vernichtungslager.
Getragen wurde das Ganze in Berlin nicht nur von Albert Speer, dem Architekten der Reichshauptstadt Germania. Als Generalbauinspektor für Berlin und späterer Rüstungsminister war er auch für die Genehmigung, den Bau und die Verwaltung der Zwangslager zuständig. Doch neben Politik, Wirtschaft und Arbeits- und Gesundheitsämtern stützte auch die Zivilbevölkerung das System Zwangsarbeit. »Fliehen war einfach, aber man kam nicht weit, weil dann die deutsche Bevölkerung ins Spiel kam«, sagt Borchers.
»Mit dem Verschwinden der Menschen, mit den Verschwinden der Lager ist auch das Thema aus dem öffentlichen Bewusstsein der Deutschen verschwunden.«
Roland Borchers
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit
Ob auch das Alte Eierhäuschen selbst als Unterbringung für Zwangsarbeiter*innen genutzt wurde, lasse sich historisch nicht verifizieren, sagt Forscher Thomas Irmer. Wahrscheinlicher sei es, dass wie das nicht erhaltene Große Eierhäuschen Wehrmacht oder Sicherheitsdienste das Gebäude nutzten. Trotzdem ist der Ort für die Geschichte der Zwangsarbeit nicht unerheblich. »Für die Zwangsarbeiter war das das Zwangsarbeiterlager Eierhäuschen«, sagte Ellen Händler, Vorsitzende des Bundes der Antifaschist*innen Treptow. Das solle für die Erinnerungsarbeit in den Mittelpunkt gerückt werden.
Das landeseigene Unternehmen Grün Berlin übernahm 2016 das Grundstück, fungiert als Projektentwickler und Betreiber sowohl des Eierhäuschens als auch des Spreeparks. Als modernes Bauunternehmen kann es sich nicht nur mit dem Platin-Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen und einer umfassenden Bürger*innenbeteiligung rühmen. »Im gesamten Konzept des zukünftigen Parks ist verankert, dass wir einen ganz besonderen Umgang mit der Geschichte dieses Ortes kultivieren«, sagt Tim Gärtner von Grün Berlin. Dabei habe man zunächst nur den fröhlichen Teil der Geschichte im Blick gehabt.
»Wir gehören zu denjenigen, die Sie stark gedrängt haben«, sagt Händler und bezieht sich dabei auf die Bürger*innenbeteiligung durch Grün Berlin. Auch an diesem Abend gab es nach dem Vortrag Raum für Stimmen aus dem Publikum und Tim Gärtner erklärte, der Impuls für die Reflexion der NS-Vergangenheit sei aus der Bürger*innenbeteiligung mit Bewohner*innen entstanden.
»Mit dem Verschwinden der Menschen, mit den Verschwinden der Lager ist auch das Thema aus dem öffentlichen Bewusstsein der Deutschen verschwunden«, sagte Roland Borchers. Die über 50 Besucher*innen, die an dem Abend in dem historischen Saal des Eierhäuschens teilweise sogar stehen mussten und die Bürger*innenbeteiligung, die eine solche historische Recherche ins Rollen gebracht hat, zeigen, dass engagierte Zivilbevölkerung den Wandel in der Erinnerungskultur herbeiführen kann.
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