Amnesty in Mexiko: »Wir sind ein Land voller Opfer«

Mexikos Amnesty-Generalsekretärin Edith Olivares Ferreto über die Menschenrechtslage im Land

  • Interview: Kathrin Zeiske
  • Lesedauer: 5 Min.
Protest am Muttertag: Mexikanische Frauen machen auf das Schicksal ihrer verschwundenen Kinder aufmerksam.
Protest am Muttertag: Mexikanische Frauen machen auf das Schicksal ihrer verschwundenen Kinder aufmerksam.

Frau Olivares Ferreto, sie setzen sich für die Menschenrechte ein. Doch kann ein Recht auf Leben in Mexiko überhaupt garantiert werden?

Rund 127 000 Menschen gelten in Mexiko als verschwunden und jeden Tag werden fast 40 weitere Menschen gewaltsam verschleppt. 29 Familienangehörige von Verschwundenen sind ermordet worden, weil sie sich nicht zum Schweigen haben bringen lassen. Wir sind ein Land voller Opfer. Und welche Politik wird verhindern, dass es jeden Tag mehr Opfer gibt?

Die unermüdliche Suche, die die Angehörige von Verschwundenen in Mexiko leisten, wäre eigentlich Aufgabe des Staates …

Und genau das sollte der mexikanische Staat anerkennen, begleiten und stärken, weil diese Menschen diese klaffende Wunde füllen, die der Staat eigentlich schließen sollte. Wir als Zivilgesellschaft sollten Solidarität mit denen üben, die versuchen, eine Tragödie anzugehen, die uns erschreckenderweise alle betrifft angesichts der alarmierenden Straflosigkeit in Mexiko.

Präsidentin Claudia Sheinbaum hat die Familien von Verschwundenen an den Gesprächstisch geholt. Was ist davon zu erwarten?

Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen sollten unbedingt in ihren Angelegenheiten konsultiert werden. Gerechtigkeit und Wiedergutmachung beinhaltet immer auch eine öffentliche Anerkennung des erfahrenen Leids. Der Regierung verleiht ein solcher Dialog mit der Zivilgesellschaft Legitimität und er bringt hoffentlich eine positive Entwicklung für Justiz und Politik mit sich. Die Familien Verschwundener forderten während der letzten Amtszeit vergeblich die Unterstützung von Ex-Präsident Andrés Manuel López Obrador.

Interview

Edith Olivares Ferreto ist Generalsekretärin von Amnesty International in Mexiko. Dort werden rund 127 000 Menschen als gewaltsam Verschwundene geführt. Die neue Präsidentin Claudia Sheinbaum hat einen Dialog mit den Familien der Opfer eingeleitet.

Was kann die mexikanische Regierung von den Familien der Verschwundenen lernen?

Wenn man begreifen will, was es bedeutet, wenn jemand gewaltsam verschleppt wird, was es bedeutet, diesen Schmerz und diese Ungewissheit zu ertragen, dann muss man den Familienangehörigen zuhören. Ich kann nicht von diesem Thema sprechen, weil ich die Generalsekretärin von Amnesty bin, sondern weil mir Betroffene immer und immer wieder erzählt haben, was sie durchmachen. Dabei erfährt man sehr viel über die Versäumnisse der Staatsanwaltschaften und damit des Staates.

Ermittlungsergebnisse bleiben meistens aus …

Angesichts untätiger Staatsanwaltschaften bleibt es an den Familien hängen, selbst Ermittlungen anzustellen und sich dadurch in Gefahr zu bringen. Die Familienangehörigen verfügen über viel mehr Hinweise als die Ermittler. Sie selbst müssen diesen auf die Finger klopfen und sagen, da gibt es einen Laden an der Ecke unserer Straße und der hat eine Videokamera, deren Aufzeichnungen ausgewertet werden müssten.

Woran liegt das?

Es fehlen Gelder, ausgebildetes und sensibilisiertes Personal und oftmals auch der Wille, etwas zu ändern. Ermittler und Ermittlerinnen verfügen oft selbst nicht über minimale Mittel, um ein Verfahren durchzuführen. Sie zahlen ihre Anfahrt selbst, sie lagern Beweismittel in Müllsäcken in ihrem Büro, weil es keine geeigneten Kühlräume gibt, sie machen Fotos mit dem privaten Handy. Das gefährdet die Ermittlungen, denn Informationen können an die organisierte Kriminalität durchsickern.

In einem aktuellen Bericht von Amnesty International Mexiko über die Arbeit der Staatsanwaltschaften haben Sie dokumentiert, das die Angestellten zumeist über 700 Ermittlungsakten auf dem Schreibtisch liegen haben.

Wie sollen sie diese Arbeit bewältigen? Nur wenn Familienangehörige sich partout nicht abwimmeln lassen, werden ihre Akten aus diesem Stapel nach oben geholt. In diesem Land sind es definitiv die Familien der Opfer, die den Strafprozess vorantreiben.

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Ein Vorgehen, das den Familien von gewaltsam verschleppten Migranten und Geflüchteten verwehrt bleibt.

Im Transitland Mexiko stellt dies ein großes Problem dar, die Dunkelziffer ist hoch. Denn Menschen mit dem Ziel USA sind oftmals gezwungen, klandestin das Land zu durchqueren. Sie werden deshalb besonders leicht Opfer von Entführungen, Menschenhandel und Zwangsrekrutierungen durch die Kartelle. Vielen Familienangehörigen von Verschwundenen bleibt es ebenso verwehrt, legal in Mexiko einzureisen, doch aus dem Ausland können sie keine Vermisstenanzeige erstatten.

Wer in Mexiko einen verschleppten Angehörigen sucht, der schließt sich gemeinhin den lokalen Suchbrigaden an …

Diese können einem sagen, wie ein Gelände aussieht, auf dem sich ein Massengrab befindet, wie man den Geruch verwesender Körper auch durch mehrere Erdschichten wahrnimmt. Die zivilgesellschaftlichen Suchbrigaden, die sich aus Familienangehörigen zusammensetzen, sind die wahren Experten in diesem Land. Auch wenn wir dies eigentlich von der Nationalen Suchkommission sagen sollten, die eigens dafür gegründet wurde.

Warum ist die Nationale Suchkommission untätig?

Vor einem Jahr wurde eine neue Direktorin eingesetzt, aber die Opferfamilien wurden nicht in die Auswahl einbezogen. Es wäre von großer Bedeutung gewesen, die rund 127 000 Familien von Verschwundenen bei der Ernennung zu berücksichtigen. Als Konsequenz haben alle Mitglieder des Bürgerbeirats der Nationalen Suchkommission im Mai 2024 ihren Rücktritt erklärt. Es ist von großer Bedeutung, dass die Regierung nun den Dialog wieder aufnimmt und Bereitschaft zeigt, die Opferfamilien einzubeziehen und ihnen eine Stimme zu geben.

Wird Präsidentin Sheinbaum die Suche nach Verschwundenen zur politischen Priorität erklären?

Aus dem geschaffenen Dialog müssen gemeinsam mit den Familienangehörigen Strategien entwickelt werden. Wir brauchen eine Politik, die den Zugang zur Justiz garantiert. Denn damit ist auch eine Botschaft verbunden: dass die Täter juristische Konsequenzen erwarten und dass die Opfer Gerechtigkeit erfahren. Nur so wird es nicht jeden Tag neue Opfer in diesem Land geben.

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