Koalition will Entwidmung von Bahnflächen leichter machen

Union und SPD legen Gesetzentwurf zur Änderung des Eisenbahnrechts vor – Klarheit schafft er nicht

An den alten Gleisflächen des Stuttgarter Hauptbahnhofs sollen Wohnungen entstehen.
An den alten Gleisflächen des Stuttgarter Hauptbahnhofs sollen Wohnungen entstehen.

Die Koalition von Union und SPD legt ein bemerkenswertes Tempo zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes an den Tag. Beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde ein Gesetzentwurf zur Änderung von Paragraf 23 am vergangenen Donnerstag erstmals im Bundestag behandelt und in den Verkehrsausschuss verwiesen.

Kein Wunder, haben doch landauf, landab großflächige Immobilienprojekte seit der letzten Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes Ende 2023 plötzlich keine Realisierungsperspektive mehr. Bei »Stuttgart 21« dürfte es sich wohl um das Bekannteste handeln. Auch in Berlin sind Projekte »on hold«, so die örtliche Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU): neben Wohnungsbauvorhaben ebenfalls der umstrittene Neubau einer vierspurigen Straße durch die Wuhlheide. Wie Bonde im Dezember 2024 im Bundestag beklagte, erkennt das für Entwidmungen zuständige Eisenbahn-Bundesamt nur ein höheres, noch darüber hinaus gehendes öffentliches Interesse jenseits von Eisenbahn-Infrastruktur an, wenn dieses gesetzlich geregelt ist.

Öffentliches Interesse wird relativiert

Mit chirurgisch wirkenden Eingriffen in den Paragrafen 23 wollen die Koalitionsfraktionen diese Hürde senken. Gestrichen werden soll die Formulierung, dass das überragende öffentliche Interesse an dem Umwidmungsvorhaben die potenzielle Nutzung für Eisenbahn-Infrastruktur überwiegen muss.

Neu eingefügt werden soll ein konkret formuliertes Entwidmungsverbot, falls sich »auf dem Grundstück eine Bahnstrecke oder ein Abschnitt einer Bahnstrecke befindet und durch die Freistellung die Möglichkeit einer Wiederinbetriebnahme gefährdet würde«. Das soll wiederum nicht gelten, »wenn durch Neubau oder Änderung von Eisenbahninfrastruktur Ersatz für die bisherige Bahnstrecke geschaffen wird«. Damit werde sichergestellt, dass sich andere Nutzungen durchsetzen können, wenn in Bezug auf das Grundstück kein Verkehrsbedürfnis besteht und auch langfristig kein Nutzungsbedarf für den Bahnbetriebszweck prognostiziert werde, heißt es in der Begründung für den Änderungsantrag.

Für Entwidmungsverfahren, die bereits vor Ende 2023 begonnen haben, soll als Übergangsregelung Paragraf 23 sogar in der Fassung vor der letzten Verschärfung durch die Ampel-Koalition gelten.

In der Praxis neue Rätsel

Ein Anwalt, der sich in der Praxis mit solchen Verfahren beschäftigt, schlägt indes die Hände über dem Kopf zusammen. Der Entwurf von Union und SPD sei »eine gesetzgeberische Verschlimmbesserung, die für die Praxis mehr neue Rätsel bereitstellt«, äußert er gegenüber »nd«. Zumal der Begriff »Strecke« im juristischen Sinne alles andere als eindeutig sei. Auch die Anwendung alten Rechts für Altfälle werde nicht unbedingt so eindeutig ausfallen, wie sich die Koalition das verspreche.

Wer stellt den Bedarf fest?

Der neuralgische Punkt im Entwurf ist jedoch die Frage, wer eigentlich feststellen soll, ob kein Verkehrsbedürfnis oder kein langfristiger Nutzungsbedarf für den Bahnbetrieb, zum Beispiel für Abstellgleise oder Werkstätten besteht. Über viele Jahre wurde diese Entscheidung faktisch der Deutschen Bahn AG überlassen, die vor allem kurzfristige finanzielle Ziele im Auge hatte. Das Ergebnis dieser Politik ist derzeit zu bewundern: fehlende Kapazität und Stabilität im Netz.

Das »Verkehrsbedürfnis« des Bundes sei von abstrakt-generellem verkehrspolitischem Charakter und »von geschäftlichen Entscheidungen oder ›Willensäußerungen‹ des Vorstands der DB AG gänzlich unabhängig« erläutert das Eisenbahn-Bundesamt in einem aktuellen Bescheid. Es verweist auf die »erwiesenermaßen oft fehlsame« Markteinschätzung der Deutschen Bahn.

Die Bundestagsfraktion der Grünen hat einen eigenen Gesetzentwurf zur Lockerung des Paragrafen 23 vorgelegt, der tatsächlich für einen handhabbaren Rechtsrahmen sorgen könnte. In ihm wird »Klarheit über sogenanntes Bahnerwartungsland geschaffen«, wie es in der Begründung heißt – und zwar durch die »gesetzliche Verankerung der bahnpolitischen Ziele und die Umsetzung in einen gesetzlich verankerten Umsetzungsplan – den Deutschlandtakt«.

Zudem sollen Verlagerungsziele im Gesetz verankert werden. Bis 2040 sollen 35 Prozent der Güterverkehrsleistung und 20 Prozent der Personenverkehrsleistung auf der Bahn abgewickelt werden. Nur wenige Bahnflächen stünden wohl zur Disposition. 2023 hatte die Schiene bei Gütern einen Anteil von knapp 20 Prozent, bei der Personenbeförderung von 8,2 Prozent.

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