- Kultur
- Jazz
Jazz-Festival in Moers: Zwischen E und U
Das diesjährige Jazz-Festival in Moers entdeckt die Stille
So viel Lobbyarbeit wie für die 54. Ausgabe des Moers-Festivals habe er noch nie leisten müssen, sagt Festivaldirektor Tim Isfort beim Pressetermin am Montagmittag. Zwar hat es dann doch für den gleichen Etat gereicht wie im vergangenen Jahr. Aber da die Kosten für Personal und Technik in den vergangenen Jahren explodiert seien, ist es unterm Strich weniger. Zehn bis 15 Prozent machen die Steigerungen aus, während das Budget für Gagen stagniert. Deswegen bittet Isfort bei seinen Ansagen vor den Konzerten unermüdlich um Spenden. Damit Moers sich nicht einreihen muss in die lange Reihe der »stillen Festivals«. Die sind auf schwarzen Stelen auf dem »Boulevard der Stille« verzeichnet, der sich über das Gelände vor der Festivalhalle zieht. Auch für Clubs, die es nicht mehr gibt, und solche, die es vielleicht bald nicht mehr gibt, ist Platz – und für eine Handvoll Wiederauferstandene.
Die schweren Zeiten hinterlassen auch Spuren in Moers. Große Namen finden sich eher wenige. Vijay Iyer spielt am letzten Festivaltag mit Wadada Leo Smith ein intensives, leises Set. Smith war 1979 zuletzt in Moers zu Gast. Caspar Brötzmann ist mehrmals solo und zum Abschluss mit seinem Massaker zu erleben. Der vor einigen Jahren etablierte Afrika-Schwerpunkt, dieses Jahr zum Thema Ruanda, ist schmal ausgefallen. Und doch ist Moers auch in diesen ungünstigen Zeiten ein utopischer Ort, der viel mehr bietet als ein Mensch an einem langen Wochenende erleben kann.
Schon die Eröffnung ist ein Fanal – das lange nahe an der Grenze zur Stille erklingt und über acht Stunden zu einem berückenden Chor anschwillt: Bei dem Projekt Multiple Voices verfertigt Toningenieur Markus Wallner mit den Stimmen des Countertenors Terry Wey und des Baritons Ulfried Staber aus der eigentlich nur etwas zehn bis zwölf Minuten dauernden Komposition »Spem in alium« von Thomas Tallis aus dem Jahr 1570 eine faszinierende Klangwelt. Eigentlich für acht Chöre zu je fünf Stimmen komponiert, singen Wey und Staber hier abwechselnd Stimme um Stimme ein, die Wallner live loopt, schneidet, schichtet. Ein Verfahren, das immer wieder Momente der Stille gebiert.
Ein viel stärkerer Kontrast zum anderen Ende des Festivals ist kaum zu machen: Das vor einigen Jahren neuformierte Caspar Brötzmann Massaker gab in der Halle ein Brachialfinale. Brötzmann, Sohn des vor zwei Jahren gestorbenen und Moers eng verbundenen Peter Brötzmann, schuf um 1990 herum mit dem Bassisten Eduardo Delgado-Lopez und zumeist Danny Arnold Lommen am Schlagzeug eine Handvoll Alben mit einer unerhörten Rockmusik zwischen Noise und freier Form. Heute spielt Saskia von Klitzing Schlagzeug – die Herangehensweise ist ganz die alte.
»Moers ist kein Ort der fertigen Antworten – es ist ein Labor des Hörens, der Irritation und der Freude.«
Festivaldirektor Tim Isfort
Zwischen Lärm und leisen Momenten, zwischen Komposition und Improvisation, zwischen E und U bewegte sich das Programm der vier Moers-Tage. Und dann ging es auch noch kreuz und quer um den Globus: Die Journalistin Sophie Emilie Beha stieß in Ruandas Hauptstadt Kigali auf ein spannendes Netzwerk aus Künstlerinnen und Künstlern, aus dem es vier schließlich nach Moers schafften – Schwierigkeiten bei Visa-Anträgen vor allem aus dem globalen Süden sind ein Dauerbrenner auch in der Kultur: Das Konzert der eigens für Moers zusammengestellten Formation Urwereka gehörte zu den mitreißendsten Erlebnissen der diesjährigen Ausgabe: Die Musikerin, Produzentin und Schauspielerin Sheja Cheryl alias Binghi hinterlegt mit machtvollen Beat-Gewittern die Spoken-Word-Performance von Natacha Muziramakenga (Miziguruka) und der Tänzer Manzi Mbaya und Bobo Elvis. Alle vier waren dann noch in verschiedensten anderen Zusammenhängen und Kombinationen zu erleben, Binghi beispielsweise mit einem DJ-Set in der Röhre, einer aus einer Reihe von Spielorten abseits des Festivalgeländes, mit denen das Festival den Geist der Improvisation in die Stadt hineinträgt. Ein anderer dieser Orte ist die Buchhandlung Barbara, wo Miziguruka im Gespräch mit Jan Paersch ein aufmerksames Publikum mit Kontext über Ruanda versorgte, aber auch über die Fragilität und Fragwürdigkeit von Identitätszuschreibungen sprach.
Der andere Schwerpunkt war in diesem Jahr China. Auch die Musiker und Musikerinnen aus verschiedenen Teilen des Landes begaben sich immer wieder in neue Kombinationen und Zusammenhänge: Der uigurische Noise-Künstler Mamer zum Beispiel war am Eröffnungsabend mit einem Solo-Set auf der großen Freiluftbühne zu erleben, das Duo bBb bBb (Lao Dan und Li Daiguo) bewegte sich auf Instrumenten wie Duduk, Pipa und Guzheng einerseits, Klavier, Saxophon und Tabla andererseits souverän zwischen Anverwandlungen traditioneller chinesischer Musik und westlicher Klangsprache. Beide waren im weiteren Programm in anderen Kombinationen zu erleben, im Zwiegespräch mit westlichen Musikern oder auch allein. Die Bühnen waren dabei ein Statement für sich: »Überm Platz« nannte sich beispielsweise eine Hebeplattform, auf der immer wieder Konzerte in luftiger Höhe zu hören und sehen waren, wenn der Wind es zuließ, übertragen auf eine quadrophone Soundanlage. Und das Pianomobil war schon wie in den vergangenen Jahren mit wechselnder Besatzung in der ganzen Stadt unterwegs.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Jazz ist dabei nur eine Facette des Geschehens, am eindeutigsten noch beim Auftritt des Bundesjazzorchesters, das sich in seinem aktuellen Programm der Musik im Nationalsozialismus verfolgter Musikschaffender widmet, darunter »Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre« und »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« von Friedrich Hollaender oder »While My Lady Sleeps« von Bronisław Kaper. Dabei gab es nicht nur spannende neue Arrangements zu hören, sondern zwischen den Liedern auch Auszüge aus den Entschädigungsakten. Ein nicht nur musikalisch aufklärerischer Programmpunkt. Wie schwierig der selbstgestellte Anspruch, »nie unpolitisch« zu sein, im Rahmen eines Musikfestivals umzusetzen ist, zeigte sich am Samstag bei einer Diskussion unter dem Titel »Kunst, Kritik oder Antisemitismus?«
Während das Format »discussions« normalerweise in eher kleinem Rahmen seinen Platz findet, war für das Gespräch die große Halle reserviert, die gerade ausreichte für das Publikum. Das musste beim Einlass, auch das ganz unüblich in Moers, eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Katja Lucker, Geschäftsführerin der Initiative Musik, Nikolas Lelle von der Amadeu-Antonio-Stiftung und die israelische Musikerin Maya Dunietz sollten mit Moderator Benny Fischer in rund 40 Minuten ausloten, wie nicht zuletzt unter den Vorzeichen des Gaza-Konflikts ein Umgang mit den Konfliktlinien in der Kulturszene umzugehen wäre. Lucker berichtete aus ihrer Praxis als Veranstalterin von Boykottaufrufen, Lelle beharrte klar darauf, dass es in Deutschland ein wachsendes Problem mit Antisemitismus gebe und dem entschieden begegnet werden müsse, während Dunietz immer wieder versuchte herauszuarbeiten, dass eine Antwort nicht in eindeutigen Schuldzuweisungen liegen könne. Für eine echte Diskussion, einen Austausch von Argumenten genügte die Zeit nicht.
Aber: »Moers ist kein Ort der fertigen Antworten – es ist ein Labor des Hörens, der Irritation und der Freude«, teilte Isfort in einer vorläufigen Bilanz am Montag mit. Recht hat er. Es ist ein anderes Lernen, das aus der Praxis des gemeinsamen Spielens über Grenzen hinweg kommt, aus dem Zuhören. Das macht ein Festival wie Moers weit über die Musik hinaus wichtig. Das Publikum verstand – und belohnte Isforts stetes Werben mit Spenden über 10 000 Euro.
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.