Nahostdebatte: Genozid und Widerstand

Fabian Goldmann bezweifelt, dass ein Kurswechsel in der deutschen Nahostdebatte stattfindet.

  • Fabian Goldmann
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Palästinenser erhalten gespendete Lebensmittel in einer Gemeinschaftsküche in Gaza-Stadt.
Palästinenser erhalten gespendete Lebensmittel in einer Gemeinschaftsküche in Gaza-Stadt.

Haben Sie es auch schon mitbekommen? Der Wind dreht sich in unserer Nahostdebatte. Das zumindest liest man jetzt immer häufiger. Kanzler Friedrich Merz habe »deutliche Worte« gefunden, der Parteivorstand der Linken einen klaren Beschluss gefällt, sogar die Grünen hätten Israels Verbrechen beim Namen genannt. Ist das nicht der lang ersehnte Wendepunkt? Nein, das ist er nicht.

Denn wissen Sie, wo sich der Wind nach wie vor nicht dreht? In Gaza. Dort werden die Menschen weiter von Israels Armee massakriert. 54 am Dienstag, 47 am Montag und 108 am Tag zuvor. Israel begeht einen Genozid in dem schmalen Küstenstreifen, Deutschland unterstützt es dabei. Dass wir angesichts dessen von irgendwelchen »klaren Worten« sprechen, zeigt was anderes als einen »Kurswechsel«. Es zeigt, wie sehr wir uns mit dem alltäglichen Morden abgefunden haben, wie tief die Entmenschlichung von Palästinensern in uns sitzt.

Stellen wir uns das, was sich in Gaza seit 20 Monaten abspielt, für einen Moment unter anderen Vorzeichen vor: Irgendein übles islamistisches Regime hätte zwei Millionen Israelis eingezäunt, hätte fast jeden Zugang zu Wasser, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung gekappt, würde die Menschen unablässig mit Granaten und Raketen beschießen. Stellen wir uns vor, dieses Morden geschehe mit deutschen Waffen. Würden wir ein paar kritische Worte unseres Bundeskanzlers als irgendwas anderes als eine zynische Verhöhnung der Opfer bezeichnen?

Fabian Goldmann

Fabian Goldmann ist Journalist aus Berlin. Er schreibt vor allem zum Konflikt im Nahen Osten.

Stellen wir uns vor, es wären französische Krankenhäuser, dänische Schulen, schwedische Flüchtlingslager, die man vor unser aller Augen bombardierte. Würden wir nach über anderthalb Jahren von all dem fordern, dass man nun aber so langsam mal das EU-Assoziierungsabkommen mit den Mördern überprüfen sollte? Stellen wir uns vor, es wären weiße Kinder, die jeden Tag auf unseren Timelines verhungern, verbluten, verbrennen. Würden wir uns mit einer Linken zufriedengeben, der dazu nicht mehr einfällt als ein Ende deutscher Waffenlieferungen und ein Bekenntnis zur Zweistaatenlösung? Ich glaube nicht.

Wir würden nach Sanktionen rufen, nach Militärinterventionen, danach, dass alles Erdenkliche getan wird, um das Morden zu stoppen. Wir würden fordern, die Opfer dieser Verbrechen in die Lage zu versetzen, sich gegen ihre Vernichtung zur Wehr zu setzen. Mit Waffen. Womit sonst. »Ja, aber Hamas«. Nein, darüber würden wir bestimmt nicht sprechen. Uns würde nicht im Traum einfallen, das Recht auf Selbstverteidigung, auf Widerstand von Menschen infrage zu stellen, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen. Stattdessen würden wir über unsere Pflicht zum Widerstand diskutieren. Über Boykotte, Blockaden, Sabotagen und Protest. Auf der Straße, im Betrieb, in der Schule. Heute, morgen, jeden Tag. Bis das Morden in unserem Namen ein Ende hat.

Dass so viele von uns das nicht tun – was sagt das über uns? Über unsere Mitverantwortung an diesem Menschheitsverbrechen, das auch mit unseren Steuergeldern, unseren Wählerstimmen, unserem Schweigen begangen wird? Es stimmt, immer mehr Menschen nennen Israels Verbrechen beim Namen, sprechen davon, dass mit deutscher Unterstützung ein Genozid stattfinden. Wichtig und richtig. Aber handeln wir wirklich, wie wenn mit deutscher Unterstützung ein Genozid stattfindet?

Damit der Wind sich dreht, braucht es viel mehr als ein paar deutliche Worte. Von Friedrich Merz, von der Linken und vor allem von uns.

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