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Zivile Seenotrettung: Leben retten statt Schiffe versenken
Christian Klemm über zehn Jahre zivile Seenotrettung im Mittelmeer
Wer früher an das Mittelmeer gedacht hat, dem fielen vor allem die schönen Strände in Italien, Tunesien, Spanien oder Ägypten ein. Seit geraumer Zeit aber verbindet man mit dem einstigen Badeparadies etwas ganz anderes: die vielen Schlauchboote, die dort gekentert sind und ihre Passagiere mit in den Tod rissen. Das Binnenmeer ist ein Massengrab, ähnlich wie die Wüstenregion zwischen den USA und Mexiko oder der Ärmelkanal vor Großbritannien, nur mit noch mehr Leichen.
Dass es in dieser Region überhaupt zu so vielen Todesfällen kommt, ist ein Skandal. Denn das hat wesentlich mit der repressiven Migrationspolitik der EU zu tun. Es gibt schließlich kaum legale Möglichkeiten, Hunger, Krieg und Armut in den Herkunftsländern in Richtung Europa zu entkommen. Für viele Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten bleibt nur die Überfahrt mit einer halb kaputten Nussschale. An jedem Parlamentarier, der diesen Zustand zu verantworten hat, klebt praktisch das Blut der Menschen, die im Mittelmeer qualvoll umgekommen sind.
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Dass es überhaupt zivile Seenotrettung gibt, ist der nächste Skandal. Denn das Retten von Menschen ist eigentlich eine staatliche Aufgabe und nichts, was man Privatpersonen anvertrauen sollte. Aber genau das ist seit zehn Jahren der Fall. Am Mittwoch haben zivile Seenotrettungsorganisationen schockierende Zahlen vorgestellt: Demnach haben sie seit 2015 mehr als 175 000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet; mindestens 28 932 Menschen seien bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben oder verschwunden.
Anstatt nun das humanistische Engagement der Seenotretter zu würdigen, werden sie jedoch kriminalisiert. So zum Beispiel in Italien, wo zurzeit ein Schiff der deutschen Hilfsorganisation Sea-Eye nach der Landung mit mehreren Dutzend Migranten auf Sizilien festgehalten wird. Das Ziel der Behörden ist klar: Migranten sollen lieber ertrinken oder nach Nordafrika – wo sie in der Regel gestartet sind – zurückgebracht werden, als europäischen Boden zu betreten. Zu diesem Zweck hat Brüssel mit Tunesien, Marokko und Mauretanien eine gemeinsame Migrationsabwehr vereinbart. Freiwillig gehen die dortigen Sicherheitskräfte aber nicht auf Menschenjagd. Die hat einen Preis – und der ist hoch: Er kostet nicht nur Hunderte Millionen Euro, sondern auch unzähligen Menschen das Leben.
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