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Die Entdeckung der Vielfalt

Wie geflüchteten Lehrkräften ein Neustart an deutschen Schulen gelingt

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 8 Min.
Yara Arslan während der Pausenaufsicht an der Eine-Welt-Grundschule in Minden. Sie verfolgt eine Integrationspädagogik und bietet mehrsprachigen Unterricht an.
Yara Arslan während der Pausenaufsicht an der Eine-Welt-Grundschule in Minden. Sie verfolgt eine Integrationspädagogik und bietet mehrsprachigen Unterricht an.

Studierende aus aller Welt sitzen an langen Tischreihen, löffeln deutschen Eintopf, diskutieren über Klausurergebnisse oder tauschen sich über Partypläne aus. Da fällt eine Gruppe arabischer Frauen kaum auf. »Ich freue mich so sehr, dass ich noch einmal studieren darf«, sagt Meyda Ibrahim. Die 36-Jährige hat vor 18 Jahren in Damaskus ihr Englischstudium begonnen und nach dem Abschluss als Lehrerin in Syrien gearbeitet. Eine Mathematiklehrerin aus dem Irak stimmt ihr zu: »Es ist toll, wieder an der Uni zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich nach der Flucht und all den Herausforderungen noch einmal in einem Seminarraum sitzen würde.«

Die Frauen gehören zu den Teilnehmerinnen von Lehrkräfte Plus, einer Initiative, die 2017 als Antwort auf den starken Zuzug Geflüchteter ins Leben gerufen wurde. Ziel war es, Lehrkräften, die in ihren Herkunftsländern bereits unterrichtet hatten, einen beruflichen Neustart an deutschen Schulen zu ermöglichen.

An der Universität Bielefeld absolvieren sie ein Jahr lang Kurse in Deutsch, Pädagogik und interkulturellem Lernen. Anschließend folgt ein umfangreiches Schulpraktikum sowie Beratung zu ihren beruflichen Perspektiven und Unterstützung bei Bewerbungen an Schulen. »Wir versuchen, Brücken zu bauen für Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund, die viel Berufserfahrung mitbringen«, erklärt die Projektkoordinatorin Kristina Purrmann. Im deutschen Bildungssystem tätig zu sein, ist dennoch ein großer Schritt für sie. »Die Situation hier unterscheidet sich deutlich von der in den Schulen ihrer Herkunftsländer«, weiß die Pädagogin der Universität Bielefeld.

Viele der Teilnehmenden waren einen auf die Lehrkraft zentrierten Unterricht gewöhnt. Während Meyda Ibrahim ihren Nachtisch umrührt, erzählt sie: »Meine Arabischlehrerin in Syrien war streng. Während der Schulstunde durften wir kein einziges Wort sagen.« Eine kurdische Kommilitonin hat ähnliches erlebt: »Wenn der Lehrer sprach, war es verboten, sich zu melden.« In Deutschland erleben die Frauen eine ganz andere Lernkultur. Die Klassenräume sind lebhafter, der Unterricht offener und viele Kinder treten selbstbewusst auf. Lehrkräfte sollen ihren Unterricht flexibel gestalten, erläutert Purrmann: »Da ist Kreativität gefragt.«

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Vom Krieg in den Klassenraum

Dem Sportlehrer Mohammad Nazir ist der Weg zurück in den Lehrberuf gelungen. Vor zehn Jahren floh er aus Syrien, nachdem er im Krieg viele Freunde verloren hatte. »Sie sind tot, weil sie sich gegen das Assad-Regime aufgelehnt haben. Während meiner Zeit an der Universität habe ich oft Leichen auf den Straßen gesehen.«

Nach seinem Studium hat er in Syrien drei Jahre lang als Sportlehrer gearbeitet. Die Bedingungen waren schwierig. Schon sein Schulweg war gefährlich. »Ich bin oft an Soldaten vorbeigekommen«, erinnert er sich. »Einmal haben sie mich angehalten, kontrolliert und zum Dienst in der Armee eingezogen. Schon zu Beginn der militärischen Grundausbildung war mir klar, dass ich da falsch war. Ich würde nie eine Waffe gegen mein eigenes Volk richten. Deshalb bin ich abgehauen.«

Der sportliche Mann floh zu Fuß bis zur türkischen Grenze. Von Izmir aus wagte er die Überfahrt übers Meer. »Wir waren rund 50 Personen auf einem Gummiboot – Kinder, Babys, Frauen, Männer. Es war so eng, dass wir uns kaum bewegen konnten. Irgendwann drang Wasser ins Boot. Zum Glück wurden wir von griechischen Fischern gerettet.«

In Deutschland angekommen, schlief er drei Monate lang auf einer Matratze in einer Sporthalle, ohne zu ahnen, dass er Jahre später als Sportlehrer in genau diese Halle zurückkehren würde. »Den Platz, an dem ich damals übernachtet hatte, habe ich jeden Tag im Unterricht gesehen.«

Die Pädagogin Kristina Purrmann weiß, dass einige Teilnehmende des Programms Krieg und Gewalt erlebt haben. »Manchmal wird das zum Thema«, sagt sie. »Wenn wir merken, dass jemand Zeit braucht, um solche Erfahrungen zu verarbeiten, vermitteln wir den Kontakt zur psychologischen Beratungsstelle der Universität.«

Während der Qualifizierung erhalten die Teilnehmenden finanzielle Unterstützung vom Jobcenter. Mohammad Nazir bekam seine Wohnkosten erstattet und zusätzlich 435 Euro. »Ich wollte kein Geld vom Jobcenter«, sagt er. »Ich wollte selbst etwas verdienen.« Vor allem aber wollte er sich seinen Traum erfüllen, wieder als Lehrer zu arbeiten. »Als ich im ersten Integrationskurs davon sprach, haben die anderen gelacht und gesagt, das würde ich nie schaffen. Das sei zu schwierig. Aber ich habe an meinem Ziel festgehalten – und jetzt arbeite ich als Lehrer.«

Deutschland braucht ausgebildete Lehrkräfte wie Mohammad Nazir. »Es herrscht Lehrkräftemangel«, betont Purrmann. »In einigen Schulen sind nur 60 Prozent der Stellen besetzt. Da kann unser Programm sicher einen Beitrag leisten.« Zudem treffen Lehrkräfte in deutschen Klassenzimmern auf Schülerinnen und Schüler, von denen im Schnitt ein Drittel einen Migrationshintergrund haben. Häufig sind es sehr viel mehr, gerade in Großstädten. »Aber in den Lehrerzimmern spiegelt sich das kaum wider«, meint Purrmann. »Es gibt nur sehr wenige Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. Das war auch ein Grund für den Aufbau des Programms. Wir wollen den Schulen die Möglichkeit geben, diverser zu werden.«

Mohammad Nazir konnte nach dem erfolgreichen Abschluss der Maßnahme halbtags als Vertretungslehrer arbeiten. »Ich musste oft einspringen, wenn Kollegen krank waren oder auf Fortbildung.« Währenddessen hat er sich auf fünf Vollzeitstellen beworben. »Ich bekam vier Zusagen.« Wie Mohammad Nazir haben auch andere Teilnehmende einen langen Weg hinter sich.

Zwischen Heimweh und Hoffnung

Die Wohnsiedlung in Löhne, in der die Syrerin Yara Arslan mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern lebt, strahlt eine friedliche Atmosphäre aus. Sie steht in scharfem Kontrast zu der Realität, die die junge Mutter hinter sich gelassen hat. 2014 verließ sie ihre Heimat, obwohl sie dort ein erfülltes Leben geführt hatte. Sie war Lehrerin an einer Privatschule, unterrichtete Englisch, Mathematik und Arabisch. »Doch dann kamen die Bomben. Meine Stadt wurde fast zerstört. Der IS übernahm die Kontrolle. Wir hatten Angst. Wir sind Christen«, sagt sie und blickt hinaus in den Garten, wo ihr Mann und seine Brüder gerade eine neue Terrasse anlegen. »Der Krieg hat das Gefühl von Vertrauen und Gemeinschaft zerstört«, stellt sie fest.

Zwar ist die Lage in Syrien nach dem Sturz des Diktators Assad stabiler als manche Beobachter erwartet hatten, doch das kann sich schnell ändern. Die neue Regierung von Übergangspräsident Ahmad Al-Scharaa bemüht sich um den Wiederaufbau, doch auch verschiedene Milizen und internationale Akteure ringen um Einfluss. Minderheiten sind weiterhin gefährdet, insbesondere Christen. »Heute fühlen wir uns in Syrien nicht mehr sicher«, sagt Yara Arslan. Die Zukunft ihrer Familie sieht sie in Deutschland.

Doch es war auch für sie schwierig, an ihren alten Beruf anzuknüpfen. Sie erhielt Absagen und ihre Qualifikation wurde infrage gestellt. In dieser Zeit konnte sie stets auf ihren Mann zählen, den Betriebswirt Elias Abduh. Während einer Pause von der Arbeit im Garten sagt er: »Wir haben so viel Schlimmes erlebt. Im Vergleich dazu sind die Probleme hier nur Kleinigkeiten.« Er selbst hat in Deutschland zunächst in einem Schnellimbiss gearbeitet. »Parallel habe ich den Integrationskurs absolviert.« Die Ausdauer zahlte sich aus. Heute ist er als Geschäftsentwickler eines transnationalen Unternehmens zuständig für die Märkte im Mittleren Osten.

Während ihr Mann Karriere machte, stellte sich Yara Arslan den Herausforderungen der deutschen Bürokratie. Zertifikate mussten anerkannt und immer neue Bewerbungen geschrieben werden. Dann erfuhr sie von dem Programm Lehrkräfte Plus. »Das war ein sehr wichtiger Schritt«, betont sie. »Ein Jahr lang wurden wir qualifiziert. Danach bekam ich eine befristete Stelle.« Als in Minden ein Job für herkunftssprachlichen Unterricht ausgeschrieben wurde, hat sich Yara Arslan sofort beworben. »Mein Vorteil war die Erfahrung, die ich durch Lehrkräfte Plus sammeln konnte. Deshalb habe ich die Stelle bekommen.«

Seit drei Jahren arbeitet Yara Arslan jetzt schon an einer Grundschule. Besonders am Herzen liegen ihr die Integrationspädagogik sowie der mehrsprachige Unterricht. »In meiner Klasse lernen die Kinder, dass Vielfalt wertvoll ist. Sie entdecken neue Sprachen und Traditionen. Es ist schön zu sehen, wie sie neugierig voneinander lernen.«

»Wir wollen den Schulen die Möglichkeit geben, diverser zu werden.«

Kristina Purrmann Universität Bielefeld

Mehrsprachiger Unterricht

Auf dem Pausenhof mischen sich Kinderstimmen in verschiedenen Sprachen: Russisch, Albanisch, Kurdisch und Farsi sind nur einige davon. Yara Arslan hat Aufsicht. Der kleine Siam aus Marokko freut sich, dass er ein paar Worte auf Arabisch mit ihr wechseln kann. »Frau Arslan ist die beste Lehrerin«, sagt er begeistert in flüssigem Deutsch. »In ihrem Unterricht machen wir viele coole Sachen – Spiele, Musik und alles mit verschiedenen Sprachen. Finde ich richtig gut.«

Auch die stellvertretende Schulleiterin Süreyya Bonitz sieht in der neuen Kollegin einen Gewinn für die Schule. »Bei uns gibt es schon lange viele Kinder mit Fluchterfahrung oder aus Familien, die aus anderen Ländern zugewandert sind. Viele sprechen anfangs kaum Deutsch. Früher hätten wir nie gedacht, dass wir mal Lehrpersonal einstellen können, das selber in einem dieser Länder ausgebildet wurde.«

Bonitz ist selbst Tochter türkischer Einwanderer. Sie betont, wie sehr sich Schulpolitik gewandelt hat. Heute ist es erklärtes Ziel, die Kollegien diverser zu gestalten, um der Vielfalt der Schülerschaft gerecht zu werden. Studien zeigen, dass dies nicht nur das Schulklima verbessern kann, sondern auch den Lernerfolg steigert. »Wenn Kinder Lehrkräfte bekommen, die Ähnliches erlebt haben, fühlen sie sich sicherer und verstanden.«

Jedoch mangelt es nicht nur an mehrsprachigen, sondern generell an ausreichend Lehrkräften. »Manche von uns müssen alle Fächer unterrichten, weil wir kein Fachpersonal bekommen«, erklärt Bonitz. »Oder der Unterricht fällt aus, weil die Stunden wegen des Lehrermangels nicht abgedeckt werden können.«

Natürlich vermisst Yara Arslan Syrien, aber eine Rückkehr kommt für sie nicht infrage. »Wir haben hier so viel erreicht. Ich habe meine Kinder in Deutschland zur Welt gebracht. Für sie wünsche ich mir eine gute Zukunft, ohne Krieg und ohne Armut.«

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