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Die Kriminalisierung der Kottianer
Nora Keller zeigt auf, wie Kriminalität am Berliner Kottbusser Tor konstruiert wird – und was dem entgegenwirkt
»Am Donnerstag zwischen 17.30 Uhr und 18 Uhr ging die Berliner Polizei am Kottbusser Tor dem Verdacht eines Fahrraddiebstahls nach. Dabei sollen sich plötzlich mindestens 50 Personen zu einer Gruppe zusammengeschlossen haben und auf die Beamten losgegangen sein«, schreibt die Boulevardzeitung »B.Z.« im September 2019. Kurz darauf geht ein 45 Sekunden langes Video viral. Es zeigt, wie ein Polizeibeamter auf einer Person kniet, ein anderer schlägt mit der Faust auf sie ein. Nach 25 Sekunden kommt ein weiterer Polizist hinzu und beginnt, auf den am Boden Liegenden einzutreten. Umstehende rufen, das Video endet mit Beamt*innen, die mit gezücktem Pfefferspray auf sie zugehen. Am nächsten Tag ändert sich der Ton der »B.Z.«. Nun ist von einem »brutalen Polizeieinsatz am Kottbusser Tor« die Rede.
Abolitionistische Fallstudie
Im gleichen Zeitraum forscht Nora Keller an dem Platz Kottbusser Tor, dem »Kotti« in Berlin-Kreuzberg, zu Gefahr, Gewalt und Polizei. Sie ist über das Vorkommnis schockiert und umso verwunderter, als ihre Interviewpartner*innen – 22 dort lebende Menschen – es in ihren Gesprächen nicht erwähnen. »Am Kottbusser Tor selbst schien der Vorfall schon bald nicht mehr der Rede wert«, schreibt Keller. In anderen Worten: Polizeigewalt scheint dort normalisiert.
Ein Jahr später sorgt eine weitere Aufnahme für Aufregung: Das Video zur Ermordung von George Floyd durch Polizisten in Minneapolis mit seinem wiederholten Ruf – »I can’t breathe« (Ich kann nicht atmen). Es bildet den Startschuss der antirassistischen Black-Lives-Matter-Bewegung und stärkt abolitionistische Polizeikritik. Abolitionismus steht in der Tradition der Abschaffung von Sklaverei. Vertreter*innen fordern das Ende repressiver Strukturen wie Polizei und Gefängnisse sowie der ihnen zugrundeliegenden Ideologien und die Schaffung solidarischer Strukturen.
Als Keller ihre Forschung am Kotti beginnt, hat sie von George Floyd noch nie gehört. Dennoch liest sich ihre Arbeit wie eine in Deutschland bisher rar gesäte abolitionistische Fallstudie. Der Kotti als Ort, an dem Migrant*innen und arme Menschen kriminalisiert werden – und wo Anwohner*innen, die Kottianer*innen, Ansätze dagegen entwickeln. Letztere positive Ausrichtung verspricht der Titel des Buches von Keller: »Stärker als das, was uns trennt«.
Ein »gefährlicher Ort«?
Das Kottbusser Tor, ein zentral gelegener Verkehrsknotenpunkt Berlins mit Spätis, Spielcasinos, Gemüseständen und Cafés, sollte in den 60er Jahren zu einem gefragten Wohngebiet umgebaut werden. Nach Hunderten Entmietungen und Gentrifizierungsprojekten ist der Anteil der in Armut lebenden Kinder dort heute doppelt so hoch wie im restlichen Berlin. 70 Prozent der Anwohner*innen haben einen Migrationshintergrund, ebenfalls ein Höchstsatz.
Die Polizei nennt den Platz einen »gefährlichen« oder auch »kriminalitätsbelasteten« Ort. Dafür gibt es keine klare juristische Definition, es ermöglicht aber verdachtsunabhängige Personenkontrollen, über die Beat*innen in »konkreten Umständen des Einzelfalls« entscheiden können. Ähnliche Versuche, eine Bedrohungslage zu kreieren, unternehmen CDU/CSU derzeit, um Asylsuchende mehr oder weniger EU-rechtskonform ausweisen zu können.
Seit einigen Jahren gebe es einen sicherheitspolitischen Trend, Gefahren als lokale Phänomene zu beschreiben und anzugehen, schreibt Keller. Zugleich ist diese Herangehensweise in der Entstehungsgeschichte der Polizei angelegt. Im frühen 18. Jahrhundert war ihre Aufgabe die Beseitigung von »Unordnung«, synonym zur Kriminalisierung der Lebensräume armer Menschen. Das begrenzte Ende des 19. Jahrhunderts ausgerechnet das »Kreuzbergurteil«. Danach sollte die Polizei gesetzeswidrige Zustände verhindern. Wobei Definitionen von Sicherheit und Gefahr laut der Kritischen Kriminologie gesellschaftlich produziert sind. Die Kritische Kriminologie interpretiert Kriminalität in Abgrenzung zur traditionellen Kriminologie als Ausdruck sozialer Ungleichheit und Machtverhältnisse.
Für die Kottianer*innen selbst ist der Platz, Kellers Interviews zufolge, nicht so gefährlich wie dargestellt. Berichte gründeten demnach auf provozierten Gewalttaten und seien politisch motiviert; bei den Vorkommnissen handle es sich nicht um kotti-spezifische sondern allgemeine gesellschaftliche Probleme; oder existierende Phänomene würden einseitig und übertrieben dargestellt. Keller zitiert dazu »Benja« – alle Namen sind in der Arbeit verändert. »Guckste so ne RTL-Doku über hier gefährlicher Ort Kottbusser Tor und dann siehst du so einen Verrückten, der halt rumspringt. (…) Und wenn du Kemal kennst (…), der ist durchgeknallt (…), der ist aber auch kreativ, ich find den witzig.«
»Gefängnislösung«
Laut Keller dient der Kotti als sozialer Raum der Reproduktion und Verstärkung ungleicher Subjektivierungen: »In diesem Sinne konstituiert das Kottbusser Tor kriminelle Subjekte oder, den analytischen Ansätzen dieser Arbeit entsprechend, Subjekte, die kriminalisiert werden.« Die jeweiligen Subjektpositionen sind dabei sozial konstruiert, und so würden – hier folgt Keller Daniel Loick und Vanessa E. Thompson – schützenswerte sowie nicht schützenswerte Subjekte unterschieden. Den Interviewten zufolge werden Menschen am Kotti vor allem dann verdachtsunabhängig kontrolliert und erfahren Polizeigewalt, wenn sie vorwiegend nicht-weiß, männlich, jung und arm sind. In Großbritannien, dem einzigen europäischen Land, das regelmäßig die Merkmale von Personen auswertet, die verdachtsunabhängig kontrolliert werden, war im Jahr 2019 das Risiko für Schwarze Menschen 40-mal so hoch wie für weiße.
Problematische Zustände des Kapitalismus werden durch die Kriminalisierung der Anwohner*innen beseitigt.
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Generell verstoßen verdachtsunabhängige Personenkontrollen, die aufgrund rassistischer Zuschreibungen passieren, gegen das Grundgesetz. In Berlin gibt es seit 2020 sogar das Landesantidiskriminierungsgesetz, das die Beweislast umkehrt – Polizist*innen müssen nachweisen, nicht rassistisch und verhältnismäßig gehandelt zu haben. Personenkontrollen gelten vor Gericht jedoch als geringer Eingriff in Freiheitsrechte, weshalb die Verhältnismäßigkeit schnell gegeben ist. Die hohe Zahl der Verfahrenseinstellungen zeigt zudem, wie schwierig es weiterhin ist, gegen derlei Kontrollen vorzugehen. Verlässlich bleibt, so schreibt es Keller, oft nur Videomaterial – so wie in den Fällen der »B.Z.« und von George Floyd.
Es ist ein Zustand, aus dem es – demnach ähnlich einem Gefängnis, wie es die Kottianer*innen beschreiben – nur schwer ein Entrinnen gibt. Eine Begründung dafür liefert die Geografin Ruth Wilson Gilmore mit einer Annäherung an den Begriff »Gefängnislösung«. In marginalisierten Nachbar*innenschaften werden problematische Zustände des Kapitalismus, wie Armut, durch die Kriminalisierung der Anwohner*innen beseitigt. Kontrollen des Kottis wären also ein moderner Versuch, marginalisierte Gruppen wegzusperren.
Zentrum des Wohnkampfes
Das Polizieren des Kottis hat aber noch einen anderen Effekt als jenen der Diskriminierung: Die Kottianer*innen entziehen sich, geprägt von ihren Erfahrungen, dem allgemeinen Sicherheitsverständnis und bauen eigene Konzepte der Verantwortung auf. Der Kotti ist nicht umsonst bekannt als ein Zentrum des Wohnkampfes. Die Anwohner*innen organisieren Telefonketten, treffen sich zu Besprechungen in sogenannten Freitagsrunden, beobachten Polizeiverhalten, bemühen sich, untereinander zu kommunizieren, anstatt Konflikte zu eskalieren, und bauen nachbarschaftliche Versorgungsstrukturen für alte oder kranke Angehörige auf. Die Beschreibungen der Alternativen bleiben in Kellers Buch allerdings Randerscheinungen.
Heute, nach Kellers Veröffentlichung, hat sich das Polizieren des Kottis weiter zugespitzt. 2023 öffnete direkt am Platz eine neue Polizeiwache, seit Beginn 2025 ist dort eine von Berlins neuen »Messerverbotszonen«, und die Kreuzung wird inzwischen videoüberwacht. Das verstößt, laut der Berliner Datenschutzbeauftragten Maike Kamp, gegen Datenschutzrechte. Die Kriminalisierungsspirale am Kotti dreht sich weiter. Zugleich bleibt er, schenkt man Kellers Optimismus Glauben, ein Ort, an dem Machtverhältnisse angefochten werden.
Nora Keller: »Stärker als das, was uns trennt«. Kriminalisierungen und Solidarität am »gefährlichen Ort« Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Westfälisches Dampfboot 2024, 240 S., br., 28 €.
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