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Kiezkasse in Berlin-Adlershof: Den Gemeinsinn (wieder)entdecken

Die Kiezkasse Adlershof fördert gemeinnützige Projekte aus der Nachbarschaft

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 6 Min.
Damals Winterbergreihe, heute Husstraße: die geschichtsträchtige Genossenschaftssiedlung auf einer Ansichtskarte von 1938
Damals Winterbergreihe, heute Husstraße: die geschichtsträchtige Genossenschaftssiedlung auf einer Ansichtskarte von 1938

»Ich will damit auch den Lügen und Verdrehungen etwas entgegensetzen«, sagt Monika Becker. Vor ihr auf dem Tisch liegen einige Ordner einer Chronik: über das Leben und das gemeinschaftliche Engagement einer Hausgemeinschaft in einer Reihenhaussiedlung in Berlin-Adlershof. In den 1970er und 1980er Jahren haben sie verschiedene Bewohner*innen erstellt. Becker will die Chronik digitalisieren, um sie der Nachwelt zeitgeistgemäß zur Verfügung stellen zu können.

Leider hat Becker dafür bisher gerade mal 625 Euro zusammen. Um die Chronik komplett digitalisieren zu lassen, braucht Becker etwa das Doppelte. Beckers Teilbetrag kommt aus einer der 20 sogenannten Kiezkassen, die einmal jährlich vom Bezirksamt Treptow-Köpenick in allen Regionen des Bezirks aufgefüllt werden. Die Kiezkassen gibt es seit 2013. In Adlershof können in diesem Jahr 5600 Euro an gemeinwohlorientierte Projekte verteilt werden – ein Drittel weniger als in den Vorjahren. Der Bezirk begründet das mit den Berlin weiten Haushaltskürzungen. Das Budget für ehrenamtliche Projekte im gesamten Bezirk Treptow-Köpenick lag in diesem Jahr bei 75 000 Euro.

Laut der Projektbeschreibung werden Vorhaben finanziert, »die den Zusammenhalt im Kiez fördern, Nachbarschaften stärken oder das Wohnumfeld verschönern, zum Beispiel Selbsthilfe- und Nachbarschaftsprojekte, Pflanzaktionen, Hoffeste, Nachbarschaftsfeste, Straßenfeste, Vortragsveranstaltungen oder Material für Bürgerinformationen«. In Adlershof wurden in den vergangenen Jahren etwa Informationstafeln auf dem Friedhof, eine Initiative für mehr grünes Bewusstsein, die Korrektur falscher Daten an der Stele der Widerstandskämpfer Otto Nelte und Willi Gall oder das Projekt Freifunk, das frei zugängliches WLAN-Netz bereitstellt, mit einer Förderung bedacht. In diesem Jahr wurde auf einer öffentlichen Kiezversammlung am 21. Mai über die für Adlershof angedachten Projekte diskutiert und die jeweilige Förderhöhe bestimmt.

Die Chronik der Hausgemeinschaft, die Becker nun digitalisieren will, hat durchaus historische Relevanz. Denn die Reihenhaussiedlung in der heutigen Husstraße war laut Becker die erste Genossenschaftssiedlung überhaupt in Deutschland. Sie sei um die vorletzte Jahrhundertwende für die Arbeiter*innen des dortigen Kabelwerks sowie verschiedener Chemie- und Textilfabriken errichtet gebaut worden – ein Vorläufer der sogenannten Gagfah-Siedlungen. Das Akronym steht für »Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten«. 1918 taten sich zahlreiche Angestellten-Verbände zusammen – die größten waren der »Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband« und der »Deutsche Werkmeister-Verband« –, um einen eigenen Träger für den Wohnungsbau zu gründen. Damit wollte man der damals grassierenden Wohnungsnot begegnen und auch den mehrstöckigen anonymen Mietskasernen in der Innenstadt etwas Gesünderes entgegensetzen.

So entstanden lebenswerte und finanziell erschwingliche Wohnungen mit viel Grünanteil, laut Satzung sollte die Gagfah bei Vermietung und Wohnungsverkauf nicht dem Gelderwerb dienen, sondern gemeinnützig arbeiten. Festgehalten wurde außerdem, dass Mietverträge, Nutzungsverträge und Verträge über die Veräußerung von Eigenheimen immer nach dem Recht der Gemeinnützigkeit und nicht im Sinne von Profitmaximierung abgeschlossen werden sollten.

Zu DDR-Zeiten spielte dann Profitmaximierung bekanntlich gar keine Rolle mehr. Stattdessen ging es in der Arbeiter*innensiedlung nun um die Festigung guter Nachbarschaft zum Zwecke höherer Ziele. So heißt es in der Chronik der Hausgemeinschaft der heutigen Husstraße 111 bis 129 beispielsweise im Eintrag vom 26.1.1984: »Im 35. Jahr unserer Republik kann sicher jeder in unserer Hausgemeinschaft bestätigen, dass unser Weg gut und richtig und vor allem ein Weg des Friedens war und ist. Wir werden weiterhin dazu beitragen, dass sich jeder von uns in unserem Wohnkollektiv in guter Nachbarschaft und damit in unserem Staat wohlfühlt.«

»Wir werden weiterhin dazu beitragen, dass sich jeder von uns in unserem Wohnkollektiv in guter Nachbarschaft und damit in unserem Staat wohlfühlt.«

Adlershofer Hausgemeinschaft der Genossenschaftssiedlung 1984

Darauf folgen dann unter anderem Punkte wie »Ordnung – Sauberkeit – Sicherheit«, wo es um die Sauberhaltung der Gehwege und Müllplätze oder die Einhaltung der Parkordnung im Wohngebiet geht. An anderer Stelle wird aber zum Beispiel auch ein Ausflug der Hausgemeinschaft zu den Wisenten im Naturschutzgebiet Damerower Werder dokumentiert.

Es ist das – wenn auch spießig und kleinbürgerlich anmutende – Gegenmodell zur immer mehr um sich greifenden Vereinzelung der heutigen Zeit, inklusive ihrer schwerwiegenden Folgen wie Isolations- und Vereinsamungserfahrungen. Einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge fühlen sich im Deutschland des Jahres 2025 mittlerweile auch immer mehr junge Menschen einsam. »Wer sich als junger Mensch in Deutschland einsam fühlt, ist unzufriedener mit der Demokratie und glaubt kaum daran, dass es lohnend ist, sich für die Gesellschaft zu engagieren«, schreiben die Autor*innen. Neben dem fehlenden Engagement drohe eine wachsende Anfälligkeit für politische Entfremdung und Radikalisierung unter den 16- bis 30-Jährigen, heißt es dort weiter.

Monika Becker verfolgt mit der Digitalisierung der Chronik das Ziel, »dass man die DDR als Land und die Menschen, die dort gelebt haben, nicht vergisst«. Dass die Lebensleistung von Millionen Menschen bis heute von der BRD nicht anerkannt werde, so Becker, ist für sie auch einer der Hauptgründe für den extremen Zulauf, den die AfD im Osten habe. Sie wolle damit die rechtsextreme Gesinnung dieser Partei überhaupt nicht relativieren, doch alle anderen – bis auf Die Linke – hätten ihrer Meinung nach die Menschen im Osten seit 35 Jahren schlicht komplett vernachlässigt und übergangen.

Ein weniger politisches, dafür aktuelleres Projekt, welches ebenfalls mit Mitteln aus der Kiezkasse unterstützt wird, ist das Adlershofer Herbstfest. Nach einer Pause von fünf Jahren zwischen 2019 und 2023, als das Herbstfest wegen der jahrelangen Sanierung des Kulturzentrums Alte Schule in der Dörpfeldstraße 54 ausfallen musste, findet es nach 2024 auch dieses Jahr wieder statt. »Es geht uns darum, ein Fest zu veranstalten, auf dem sich die Adlershoferinnen und Adlershofer begegnen können«, sagt Susanne Barthelmes. Sie ist Sprecherin des Adlershofer Festkomitees, einer Gruppe ehrenamtlich engagierter Menschen aus dem Ortsteil, die das Herbstfest mit Unterstützung des Heimatvereins Köpenick organisiert. »Die durchweg positive Resonanz zum Herbstfest 2024 hat uns motiviert, die alte Tradition weiter fortzuführen«, so Barthelmes weiter. Zudem sei die diesjährige 25. Ausgabe des Adlershofer Herbstfest ein besonderes Jubiläum.

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Laut Festkomitee soll am 27. September das Gelände und Gebäude des Kulturzentrums Alte Schule in einen lebendigen Treffpunkt für Kinder und Erwachsene verwandelt werden. Von 11 bis 19 Uhr soll es dann vor dem Kulturzentrum unter anderem eine Jongliershow und Livemusik geben. Die Polizei Berlin wird mit einem Infostand zum Thema Sicherheit informieren. Solche Tische wird es auch vom Naturschutzbund Deutschland, dem Technologiepark Adlershof und weiteren Vereinen und Bürgerinitiativen geben. Die Einnahmen eines parallel dazu laufenden Flohmarkts sollen an die Berliner Tafel gespendet werden.

Zeitgleich soll es auf dem Außengelände der nahen Verklärungskirche in der Arndtstraße ein Kinderfest geben, das Susanne Barthelmes und Muna Ali – ebenfalls Mitglied des Festkomitees – in eigener ehrenamtlicher Initiative veranstalten. Die Kinder können sich dort dann unter anderem auf Hüpfburgen, in einem Schminkbereich, beim Torwandschießen, an einem Eiswagen, einer Reparaturstation für Kinderfahrräder und bei bei verschiedenen weiteren Spielangeboten austoben.

In der Kiezkassenversammlung haben die Adlershofer Bürger*innen entschieden, das Herbstfest und das Kinderfest mit bis zu 2400 Euro finanziell zu unterstützen. Darüber hinaus beruht die Finanzierung auf Spenden aus dem Kiez. Man kann das Herbstfest noch mit Spenden unterstützen.

Spendenkonto: Heimatverein Köpenick e.V., IBAN: DE 94 1209 6597 0005 62 0000, BIC: GENODEF1S10, Verwendungszweck: Adlershofer Festkomitee

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