- Kultur
- Natascha Gangl
Ingeborg-Bachmann-Preis: Literatur gegen den »Endzeitfaschismus«
Trotz aller Kürzungen war der Bachmannwettbewerb in Klagenfurt einer der stärksten der letzten Jahre
»Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar«, lautet das vielleicht berühmteste Zitat der Dichterin Ingeborg Bachmann, die heuer ihren 99. Geburtstag gefeiert hätte. Die Wahrheit ist, dass ihre Geburtsstadt Klagenfurt pleite ist. Die Stadtpolitik, allen voran Bürgermeister Christian Scheider (ehedem Tennislehrer von Jörg Haider), hat sich für das laufende Jahr auf kein Budget einigen können, mit existenzbedrohenden Folgen für die freie Szene. Theatergruppen wie Vada, der Verein zur Anregung des Dramatischen Appetits, leben von der Hand in den Mund und von der Hilfe der Landesregierung. »Kunst ist der Puma der Armut«, schrieb der viel zu früh verstorbene Dichter Georg Timber-Trattnig, hier in Kärnten vielen noch bekannt als Bassist der Band Naked Lunch. Nicht alle Künstler aber kämpfen, vielen fehlt inzwischen die Kraft. Und manche von ihnen fühlen sich wie die Kanarienvögel der Gesellschaft; ähnlich dem Bergbau müssen sie in ihren Käfigen voran in den Schacht, ins Dunkle – und ersticken zuerst.
Hier in Klagenfurt erfolge der Kahlschlag der Kultur aktuell mit einer solchen Wucht, die sich im Wörthersee gewaschen hat, so der Sprecher der Bachmannpreis-Jury Klaus Kastberger am Mittwoch in seiner Wortmeldung zu Beginn der diesjährigen 49. Tage der deutschsprachigen Literatur. Er sei der festen Überzeugung, dass in der Literatur, also »in Räumen, wo alternative Welten zum Leuchten gebracht«, wo Problemfelder markiert und in Beziehung gesetzt würden und letztlich immer an einem friedlichen Zusammenleben gearbeitet werde, eine Chance auf eine bessere Welt liege.
Kastberger ist für sein Klartextsprechen bekannt: »Wir dürfen uns solche Chancen nicht nehmen lassen, nicht von rechter und kulturfeindlicher Politik, nicht von verheerenden Zuständen in der Welt und auch nicht aus Kostengründen.« Denn wie zu erwarten haben die Streichungen auch vor dem »Bewerb« keinen Halt gemacht. Der Literaturkurs Klagenfurt, von vielen liebevoll »Häschenkurs« genannt, wurde eingestellt. Er war einmal die Kaderschmiede des Literaturbetriebs, Bestsellerautoren wie Bov Bjerg und Angela Lehner sind hieraus hervorgegangen. Gestrichen wurde das Stadtschreiberstipendium und auch der traditionelle Bürgermeisterempfang auf der Halbinsel Maria Loretto am Abend des zweiten Lesetags. Aber wie schon Gert Jonke, 1977 der erste Bachmannpreisträger, schrieb, werden gerade in der Wüste die buntesten Teppiche geknüpft.
Das Wichtigste vorab: Der Jahrgang 2025 des Bachmannwettbewerbs war der Stärkste seit Langem. Die Eröffnungsrede der deutsch-iranischen Schriftstellerin Nava Ebrahimi, Bachmann-Preisträgerin 2021, beschäftigte sich erst mal nicht primär mit Literatur, sondern mit dem »Endzeitfaschismus« unserer Tage: »Beinah täglich, scheint es, verschieben sich Grenzen. Grenzen des Sagbaren, Grenzen des Machbaren. Beinah täglich bauen wir menschlich ab, senken wir unsere ethischen Standards, gewöhnen wir uns an neues Leid.«
Vom alten Leid, das nicht vergehen will, von den Verbrechen der letzten Kriegstage im Grenzraum der Steiermark handelt der großartige Siegertext von Natascha Gangl, in dem sie Sprache, Identität und Kriegsverbrechen im Grenzgebiet zwischen Österreich, Ungarn und Slowenien verbindet. Ein Weckruf schon der erste Satz: »WOU G’HEASTN Du HI?« Mit einiger Lautverschiebung wird das nicht mehr als steirische Begrüßung verstanden, nicht als: »Wo gehörst du hin?«, sondern als »Wo hörst du hin?« – Aus »WEIN-INTA-WIU-SDN-DO« wird: »Wo sind die Juden dort?« Sie sind ermordet. Die, die »ein bissl zugedeckt waren. Mit Erde. Dass sich die Leute noch bewegt haben.« Dieser Text vom Tod, so die Jury, führe in seinem Dialekt zu einer unglaublichen Lebendigwerdung der Sprache, gehe direkt in Hirn und Herz.
Zu den 25 000 Euro Preisgeld kommen noch die 7 000 Euro vom Publikumspreis dazu. Darauf angesprochen, sagte Natascha Gangl: »‘ziagt ma die Schlapf aus.« Gewonnen hat auch die freie Szene der Kärntner Landeshauptstadt: Martina Mosebach-Ritter vom kleinen Klagenfurter Ritter-Verlag mag ihr Glück kaum fassen, dass ihre Autorin gleich doppelt ausgezeichnet wurde.
Boris Schumantzky, auf deutsch schreibender russischer Schriftsteller, erhält den mit 12 500 Euro dotierten Deutschlandfunkpreis mit einer Geschichte, die hier im »nd« abgedruckt werden müsste. Der im deutschen Exil lebende Erzähler will heim, einmal noch seine hochbetagte Mutter sehen, die mittlerweile fast erblindet ist. Vor der Reise aber übt er den Suizid, nur für den Fall, dass er vielleicht schon am Flughafen verhaftet wird. »Letzte Woche habe ich mir beigebracht, Tabletten ohne Wasser zu schlucken, habe mit Vitamin D geübt. Es kann sein, dass ich kein Wasser zu Hand habe, wenn ich Pentobarbital nehmen muss. Ich fliege noch zwei Stunden, dann die Passkontrolle, und wenn sie mich durchlassen, bin ich eine Stunde später in der Wohnung, wo Mama mich nicht erwartet. Sie hat mir oft zu verstehen gegeben, dass ich nicht kommen darf, nicht einmal zu ihrer Beerdigung.«
Die in Kärnten aufgewachsene Schriftstellerin Tara Meister wurde zur »Carinthischer Sommer Festivalschreiber:in« gekürt. Das erstmals vergebene zweimonatige Stipendium am Ossiacher See ist mit 3 000 Euro dotiert. Tara Meister las den Text »Wakashu oder«, im Bewerb vielleicht die beste Leseperformance: sinnlich, poetisch, vielleicht der weibliche Gegenentwurf zu Josef Winkler, dem Klagenfurter Büchner-Preisträger (»Das wilde Kärnten«), etwa in der Beschreibung einer erfolgten Schlachtung: »An den Haken am Heimweg hingen die Säue und bluteten aus.« Und doch ist da ein ganz anderer, zärtlicher Ton: »Ich betaste seine Lippen, versuche den Unterschied zu erklären zwischen Anfassen und Berühren.«
Den mit 10 000 Euro dotierten Preis des Stromkonzerns Kelag erhielt Nora Osagiobare, deren Vorstellungsvideo schon ein wenig Erwartungen weckte. In dem Clip wandert die Autorin im Pyjama durch die Welt und sagt von sich: »Seitdem ich einen Roman geschrieben habe, habe ich weniger Schuldgefühle.« In ihrem Text »Daughter Issues« entwickelt die Ich-Erzählerin ein neues Reality-TV-Format, bei dem Vätern angeboten werden soll, den Kontakt zu ihrer Tochter für eine Million Euro abzubrechen. In seiner Laudatio sagt Juror Thomas Strässle, der die Autorin für den Bachmannpreis nominiert hat, in der Geschichte deute zunächst nichts darauf hin, dass die Tochter das Ekel sei und nicht der Vater. Suchtprobleme, Beziehungsprobleme und ein problematisches Verhältnis von Vater und Tochter. Der Vater zeichne sich durch Sanftmut aus. Der Text habe alles, was eine mitreißende Erzählung brauche, so Strässle.
Der 3sat-Preis im Wert von 7 500 Euro geht an Almut Tina Schmidt. Die deutsche Autorin, die in Wien lebt, las auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant den Text »Fast eine Geschichte« über die Bewohner eines Mehrparteienhauses aus der Sicht einer vom Leben erschöpften Ich-Erzählerin.
Leider leerausgegangen, aber in Inhalt und Vortrag positiv überrascht haben in diesem Jahr die beiden ostdeutschen Beiträge: Laura Laabs, deren Kindheitsgeschichte in der unmittelbaren Nachwendezeit spielt, hätte auf jeden Fall einen Preis verdient. Eine minderjährige Mädchen-Meute spielt erst auf dem verlassenen Kasernengelände des Wachregiments »Feliks Dzierzynski« und wirft dann von der Brücke Steine auf die Autos der Wessis – ein überaus gelungener Beitrag zur innerdeutschen Verständigung. Am Ende findet sich die erwachsene Ich-Erzählerin bei den Reichsdeutschen wieder. Was für eine Story! Laura Laabs, so viel kann man sagen, mag als Schriftstellerin politisch unzuverlässig sein, auf jeden Fall aber ist sie eine große Erzählerin. Mehr davon!
Ein wichtiger Text war in diesem Jahr auch Sophie Sumburanes »Sickergrubenblau«, die Geschichte einer Vergewaltigung. Weil ihr K.-o.-Tropfen verabreicht wurden, kann sich die Erzählerin nicht mehr erinnern, dafür aber ihr Körper. Jurorin Laura de Weck war sehr beeindruckt, dass dieser Text wie eine »Chronik des Verlusts« sei: »Man erfährt, wie eine junge Frau durch einen Missbrauch alles verliert, ihre Lebensfreude, ihr Körpergefühl, ihre Lust und dann auch noch ihre Freundschaften.« Juror Thomas Strässle sprach von einem beeindruckendem Text – »sprachlich sehr gut, schlank, schlicht mit einer sehr guten Auftaktszene, die auch nicht verloren geht.« Dass auch dieser Text bei der Preisvergabe unberücksichtigt blieb, mag daran liegen, dass Sophie Sumburane am Donnerstag direkt nach Natascha Gangl vortrug. Auch von ihr wird noch mehr zu hören und zu lesen sein.
Alle Lesungen und Texte sind online abrufbar unter https://bachmannpreis.orf.at
Karsten Krampitz hat 2009 den Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb gewonnen und war im Jahr darauf Klagenfurter Stadtschreiber. Im September erscheint von ihm in der Hamburger Edition Nautilus der Roman »Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung«.
»Seitdem ich einen Roman geschrieben habe, habe ich weniger Schuldgefühle.«
Nora Osagiobare
Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Dank der Unterstützung unserer Community können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen
Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.