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Rebecca Lenkiewicz: »Jeder trägt seine Dunkelheit in sich«
In ihrem Regiedebüt »Hot Milk« visualisiert Rebecca Lenkiewicz Seelenzustände
Im Zentrum von »Hot Milk« stehen Sofia (Emma Mackey) und ihre Mutter Rose (Fiona Shaw). Rose leidet an einer rätselhaften Krankheit, weshalb sie gemeinsam einen Wunderheiler (Vincent Perez) in Griechenland aufsuchen. Das klingt nach einer engen Mutter-Tochter-Beziehung.
Ihre Beziehung ist komplex – nicht toxisch, aber sie sind sich gefährlich nah. Sofia ist seit ihrem vierten Lebensjahr in vielerlei Hinsicht eher wie eine Mutter für Rose. Zwischen ihnen besteht zweifellos eine wechselseitige ungesunde Abhängigkeit – und zugleich eine Liebe, die im Film nicht auf den ersten Blick sichtbar wird. Rose hält an der Vergangenheit fest und Sofia an Rose. Sie erlaubt sich nicht, sich von ihr zu lösen. Sofia wünscht sich, dass Rose ihre Trägheit überwindet und endlich aus eigenem Antrieb handelt. Rose hat Angst, Sofia zu verlassen oder dass Sofia sie verlässt.
Wie haben Sie Distanz und Nähe der beiden geschaffen?
Ich vertraue meinen Schauspieler*innen gerne. Emma Mackey und Fiona Shaw haben Vorschläge gemacht. Ihr Handeln sollte sich authentisch und echt anfühlen. Im Alltag unterhalten sich Menschen nicht so, wie wir es gerade tun. Unsere Situation ist ein wenig inszeniert. Wir müssen uns gegenseitig hören und wir schauen uns an, aber im Leben lässt man hier und da ein Wort fallen. Man ist hier und da, aber selten an einem Ort, weil man nebenher etwas macht. Diese Dynamik überträgt sich bei Sofia und Rose auf den gesamten Raum. Selbst wenn die beiden voneinander entfernt sind, sind sie miteinander verbunden. Man spürt die unsichtbare Nabelschnur zwischen ihnen, weil immer – selbst auf Distanz – eine gewisse Spannung zwischen beiden bleibt.
Rebecca Lenkiewicz, Jahrgang 1968, war die erste lebende Autorin, von der ein Stück auf der Olivier-Bühne im Royal National Theatre in London aufgeführt wurde (»Her Naked Skin«, 2008). Mit Pawel Pawlikowski schrieb sie das Drehbuch für »Ida« und gewann 2015 sowohl einen Oscar als auch einen Bafta als bester fremdsprachiger Film. Sie hat zahlreiche Drehbücher verfasst, darunter »She Said« (2022). »Hot Milk« ist ihr Debüt als Regisseurin.
Es gibt auch das großartige Bild, wo sie sich nicht gegenübersitzen, sondern im Raum versetzt mit dem Rücken zueinander …
… und Rose zählt auf, wen sie hasst, während Sofia sich fragt: Bin ich das? Sofia und Rose wirken wie ein ungleiches Paar und sind auch in ihrer Art unterhaltsam.
Dann begegnet Sofia am Strand Ingrid (Vicky Krieps), die als kraftvolle moderne Amazone wie ein Befreiungsschlag auf sie wirkt.
Ingrid ist wie ein Funke, der Sofias Veränderung entfacht. Sie ist ein Freigeist, der sich mit ungeheurer Energie in alles stürzt, was sie tut. Aber sie ist nicht die, für die sie sich ausgibt. Auch an ihr haftet ein Trauma. Sofias und Ingrids Beziehung zueinander ist nicht einfach, weil Liebe es nie ist.
Warum tragen Buch und Film den Titel »Hot Milk«?
Der Titel trägt etwas Urtümliches in sich: Muttermilch. Die Hitze Spaniens durchzieht das Buch, die Hitze Griechenlands unseren Film. Selbst Sofias Job als Barista in London, bei dem sie Milch erhitzt und aufschäumt, spiegelt dieses Motiv. In der Romanvorlage erwähnt die Autorin Deborah Levy die Milchstraße. Zudem ist »Hot Milk« einfach ziemlich erotisch.
Sie trennen klar Tag und Nacht voneinander. Tagsüber spürt man die sengende Hitze, nachts hat der Film durch die künstlerische Umsetzung etwas Traumhaftes, vielleicht auch Albtraumhaftes. Warum gehen Sie so artifiziell vor?
Sofias albtraumhafte Vision und ihr Erinnerungstraum sollten sich in gewisser Weise von der Realität entfernt anfühlen. Ich wollte, dass die Menschen in »Hot Milk« immer wahrhaftig wirken. Fast so, als würde man eine überwältigende außerkörperliche Erfahrung machen, aber man selbst ist real. Die Ereignisse entwickeln ihre eigene Dynamik, und dadurch wirken sie intensiver. Die Nacht hat ihre ganz eigene Bedeutung und lässt uns alles stärker spüren.
Dem Film vorangestellt ist Louise Bourgeois’ Zitat: »Ich bin in der Hölle gewesen, und ich sage dir: Es war herrlich.« Was ist die Verbindung zu Louise Bourgeois?
Sie ist eine Künstlerin, die ich sehr bewundere und die bis in ihre 90er gearbeitet hat. Der Film handelt vor allem von Frauen, die versuchen, sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Das Zitat ist sehr schön, weil es zeigt: Nichts bleibt so, wie es scheint. Der Film fühlt sich manchmal wie eine Höllenreise an, die sich um sich selbst dreht: Das Verlangen nach Liebe und damit verbunden die erste echte Liebe, die nicht funktioniert, kann sich höllisch anfühlen, wenn man – wie unsere Figuren – feststeckt. Jeder trägt seine eigene Dunkelheit in sich, und man muss diese Dunkelheit erforschen. Man kann diese Dunkelheit nicht wegleugnen. Man kann sie nicht loswerden. Sie ist Teil der eigenen DNA, sobald man diese Welt betritt.
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Im Film geht es nicht nur um Leben und Tod, sondern auch um Ihre persönlichen Erfahrungen …
Als ich Rose im Drehbuch beschrieben habe, musste ich oft an meinen Vater denken, weil es bei uns ähnliche Momente gegeben hat. Er war ein brillanter Mann, aber kein einfacher Mensch. Wir waren an einem emotionalen Ort, wo Liebe entsteht, aber wir haben uns in keinem einfachen Terrain befunden. Mein Vater hat den Tod schließlich dem Leben vorgezogen. Rose hat Anklänge an meinen Vater, nicht aber an meine Mutter, weil wir ein sehr gutes Verhältnis zueinander haben.
Sollten wir auch unseren Tod selbst bestimmen können?
Wenn man chronisch krank ist und keine Hoffnung auf Besserung besteht, man aus dem Leben scheiden möchte, solange man noch bei klarem Verstand und körperlich fit ist, dann sollte man dieses Recht haben. Natürlich bräuchte es klare Regeln, aber am Ende sollte die Wahl jedem Einzelnen überlassen sein.
»Hot Milk«, UK/Griechenland 2025. Regie und Buch: Rebecca Lenkiewicz. Mit: Vicky Krieps, Emma Mackey, Fiona Shaw, Vincent Perez. 92 Min. Kinostart: 3. Juli.
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