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Offensive auf Isländisch
Der Inselstaat bringt immer wieder Fußballtalente hervor. Was macht das Land anders als andere?
Glódís Perla Viggósdóttir zieht den Reißverschluss ihrer Jacke bis ganz nach oben. Die Wolken hängen tief über Reykjavik, es nieselt, der Wind bringt Baumkronen in Bewegung, doch die Kapitänin des isländischen Fußballnationalteams lässt sich ihre gute Laune nicht verderben. Viggósdóttir schreitet über einen Kunstrasen, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Sie gibt Hinweise, klatscht in die Hände, muntert auf. Fast immer mit einem Lächeln.
An einem Samstagmorgen im Juni nehmen in einem Vorort der isländischen Hauptstadt rund 250 Mädchen an einem Trainingscamp teil. Sie passen sich Bälle zu, dribbeln, üben Torschüsse. Am Spielfeldrand stehen Dutzende Eltern, unterhalten sich und machen Fotos. Viele der Mädchen tragen nicht das Trikot von Messi oder Ronaldo, sondern ein rotes Hemd mit der Nummer 4. Es ist das Trikot, in dem Glódís Viggósdóttir bei ihrem Verein aktiv ist, beim FC Bayern.
»Ich bin sehr froh, dass ich in Island aufgewachsen bin«, sagt Viggósdóttir, der Promigast des Tages. »Bei uns erhalten Mädchen im Sport von Anfang an die gleichen Chancen wie Jungen. Dass das nicht selbstverständlich ist, merkt man erst, wenn man mal länger im Ausland ist.«
In Island leben nur rund 400 000 Menschen. Trotzdem hat sich Fußballnationalteam der Frauen zum fünften Mal hintereinander für die Europameisterschaft qualifiziert. Das Turnier beginnt an diesem Mittwoch in der Schweiz. »Unser Erfolg ist kein Zufall«, sagt Viggósdóttir, die in Island mehrere Ehrungen erhalten hat, unter anderem als »Sportpersönlichkeit des Jahres«. »Wir sind das Ergebnis einer langfristigen und strukturellen Förderung.«
Das gilt für den Fußball, und das gilt für andere Bereiche. Das Weltwirtschaftsforum veröffentlicht jährlich den Global Gender Gap Report, der die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bewertet, in Wirtschaft, Politik, Bildung und Gesundheit. Island belegt in dieser Rangliste seit 15 Jahren den ersten Platz. Das Land hat eine Präsidentin und eine Premierministerin, eine Außenministerin und eine Bischöfin. Auch der Fußballverband wurde schon von einer Präsidentin und von einer Generalsekretärin geführt. In Deutschland, England oder Frankreich: bislang kaum vorstellbar.
Wie hat Island das geschafft? Die Antwort auf diese Frage findet sich beim nationalen Fußballverband, der seinen Sitz im Laugardalsvöllur hat, dem wichtigsten Stadion des Landes. Hinter der Tribüne erheben sich in der Ferne schneebedeckte Berggipfel. Rund um das Stadion reihen sich Park, Trainingsplätze und Schwimmhalle aneinander. »Das raue Klima verlangt uns einiges ab, aber wir bleiben deshalb nicht auf dem Sofa sitzen«, sagt Jörundur Sveinsson, der Technische Direktor des isländischen Fußballverbandes. »Der Sport prägt seit der Kindheit unseren Alltag. Und dabei wollen wir nichts dem Zufall überlassen.«
»Wir haben Teams bei uns im Verein, die gehören zu den erfolgreichsten im Land. Wir haben aber auch Teams, die seit fünf Monaten kein Spiel gewonnen haben.«
Ulfar Hinriksson
Trainer bei Breidablik Kópavogur
In Deutschland haben Schülerinnen und Schüler meist zweimal in der Woche Sport. Und häufig fällt der Unterricht wegen Lehrkräftemangels oder maroder Sporthallen aus. In Island gibt es dreimal pro Woche Sport, darunter regelmäßig Schwimmen. »Wir beim Fußballverband wünschen uns täglichen Sportunterricht«, sagt Jörundur Sveinsson, der selbst als Spieler aktiv gewesen war und Anfang des Jahrtausends auch das Nationalteam der Frauen trainierte.
Jörundur Sveinsson hat in der Verbandszentrale sein eigenes Büro, aber er erledigt seine Schreibarbeit lieber im Großraum, wo die Kommunikation mit dem Team schneller geht. Sveinsson hat Lehramt studiert und zeitweise in einer Schule gearbeitet, wie Hunderte andere Trainerinnen und Trainer, die in Island im Verband oder in Vereinen tätig sind. »Dass Eltern oder Nachbarn spontan ein Jugendteam übernehmen, kommt bei uns selten vor«, sagt Sveinsson. »Wir legen großen Wert auf die Qualifikation und Fortbildung unserer Trainer.«
Auf dieser Grundlage findet er es selbstverständlich, dass im Fußballverband alle Abteilungen auf beide Geschlechter ausgerichtet sind, ob Physiotherapie, Berufsförderung oder Marketing. Und auch die Prämien der Nationalspielerinnen sind genauso hoch wie die ihrer männlichen Kollegen. »Natürlich möchten wir ein Umfeld schaffen, in dem unsere Teams erfolgreich sind«, sagt er. »Aber unsere Verantwortung geht weit darüber hinaus.« Sveinsson erwähnt zum Beispiel die vielen Bolzplätze, die auf Schulhöfen errichtet wurden, mit der Förderung des Fußballverbandes.
Die isländischen Verbände und Vereine verfolgen ein Konzept, das in Europa wohl einmalig ist. Es geht ihnen nicht um »Eliteförderung«, sondern um »Sport für alle«. Vidar Halldorsson von der Universität Island erklärt die Hintergründe. Der Sportsoziologe legt den Weg zwischen seiner Wohnung und dem Campus täglich mit dem Rennrad zurück. Vor dem Interview für diesen Artikel nimmt er schnell noch einen Teller Pasta zu sich. Dann sagt er: »In Island gibt es keine Talentsichtung. Alle Vereine sind gemeinnützig. Der Sport gilt als wichtiger Teil von ganzheitlicher Bildung.«
Vidar Halldorsson hat an der Uni Hunderte Trainer, Lehrkräfte und Vereinsmitarbeitende ausgebildet. Er verweist immer wieder auf seine Forschungen, die bis in die 90er Jahre zurückreichen. Und die besagen: Wenn Kinder und Jugendliche Sport treiben, dann profitieren sie langfristig. Es ist wahrscheinlicher, dass ihre Leistungen in der Schule allgemein besser werden. Dass sie selbstbewusster werden und Empathie entwickeln. Und dass sie später weniger rauchen und Alkohol trinken. »Doch dieses Sportmodell muss langfristig organisiert werden und benötigt gute Fachkräfte«, sagt Halldorsson.
Aber wie sieht die Praxis aus? Das Gelände von Breidablik, einem der erfolgreichsten Vereine Islands, liegt am Rand von Reykjavik an der Autobahn und ist schon aus der Ferne gut zu erkennen. Der Name Breidablik stammt aus der nordischen Mythologie und steht für die Heimat von Balder, der als der friedlichste unter den germanischen Göttern gilt.
Ein geschwungenes Dach überspannt den beheizten Kunstrasen, der die Größe eines herkömmlichen Fußballfeldes misst. Ein Dutzend solcher Hallen ist in den vergangenen 20 Jahren gebaut worden, finanziert von den Kommunen. So kann der Sport in den langen und dunklen Wintern weitergehen.
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Am Nachmittag wird es laut in der Halle von Breidablik. Busse bringen Kinder und Jugendliche aus sieben umliegenden Schulen zum Verein. Zeitgleich sind rund hundert Spielerinnen und Spieler für Übungen auf dem Kunstrasen, angeleitet von zehn Trainerinnen und Trainern. »Unsere Tür steht für alle offen«, sagt der langjährige Trainer, Funktionär und studierte Lehrer Ulfar Hinriksson. »Wir haben Teams bei uns im Verein, die gehören zu den erfolgreichsten im Land. Wir haben aber auch Teams, die seit fünf Monaten kein Spiel gewonnen haben.«
Ulfar Hinriksson gehört zu den prägenden Köpfen bei Breidablik. Im Obergeschoss der Fußballhalle klappt er im Konferenzraum seinen Laptop auf und erläutert das enge Netzwerk zwischen Verein, Schulen und Universität. »Unsere Mitgliedsbeiträge sind relativ niedrig. Aber wenn sich Eltern diesen Beitrag einmal nicht leisten können, finden wir eine Lösung. In der Regel erfahren die Kinder davon gar nichts.«
Breidablik zählt im Nachwuchs rund 1700 Mitglieder, davon 600 Mädchen. In ihren Altersklassen sollen die Spielerinnen möglichst lange zusammenbleiben. Doch wenn sie sich als besonders talentiert erweisen, rücken sie vorzeitig in die nächste Altersstufe auf. Sie bleiben in Verein und Schule, in ihrem heimischen Umfeld, und ziehen nicht, wie in vielen anderen Ländern üblich, in ein fernes Internat, in dem der Fußball über allem steht. Im aktuellen Kader des isländischen Nationalteams haben sechs Spielerinnen einmal für Breidablik gespielt.
Also alles perfekt? Ulfar Hinriksson lächelt verhalten und schüttelt den Kopf. 2016 nahm das isländische Nationalteam der Männer zum ersten Mal an einer Europameisterschaft teil, 2018 zum ersten Mal an einer Weltmeisterschaft. Durch Startprämien, Werbeeinnahmen und TV-Erlöse flossen zweistellige Millionenbeträge in den isländischen Fußball. »Jeder wollte etwas von dem Geld haben«, sagt Hinriksson. »Die Nationalspieler, der Verband, die Vereine. Nach meiner Einschätzung war das schlecht für unsere Gesamtstruktur. Gerade die Spieler hatten nun mehr Geld und konnten höhere Prämien fordern.«
Doch der Erfolg der Männer lockte in Island auch Tausende Mädchen in die Vereine. Einige von ihnen könnten bald für das Nationalteam spielen, doch die große Mehrheit betrachtet Sport als gesunde Freizeitbeschäftigung. Aber nicht nur das: Der Sportsoziologe Vidar Halldorsson hat für seine Forschung Fans befragt, die bei großen Turnieren die isländischen Nationalteams begleitet haben. Ein Ergebnis: Nur 40 Prozent der Befragten interessierten sich tatsächlich für Regeln und Geschichte des Fußballs. Es ging ihnen vielmehr um Reisespaß, Zusammengehörigkeit, Identifikation.
In einem solchen Umfeld sind sich auch Sportlerinnen ihrer Vorbildrolle bewusst. 2023 machte die isländische Fußballerin Sara Björk Gunnarsdóttir Schlagzeilen. In einem Artikel schrieb sie, dass sie sich während ihrer Schwangerschaft von ihrem Verein Olympique Lyon nicht unterstützt gefühlt habe. Juristisch forderte sie die Nachzahlung ausgebliebener Gehälter ein – und bekam Recht.
Einige isländische Medien zählen Gunnarsdóttirs Klage zu einer Reihe wichtiger Proteste. Seit den frühen 70er Jahren hatten Frauen in Island immer wieder für Gleichstellung in Arbeits- und Familienrecht demonstriert. Es war daher folgerichtig, dass in Island 1980 Vigdís Finnbogadóttir zur Präsidentin gewählt wurde, als erstes weibliches Staatsoberhaupt weltweit.
Zurück beim Fußball-Mädchencamp in Reykjavik, wo sich die Teilnehmerinnen für eine Autogrammstunde in die lange Warteschlange stellen. An der Spitze an einem Tisch sitzt auch die Nationalspielerin Karólína Lea Vilhjálmsdóttir, die bei Bayer Leverkusen aktiv ist. Sie signiert, plauscht und posiert für Selfies.
»Wir lieben Fußball, aber niemand muss sich nur auf Fußball konzentrieren«, sagt Vilhjálmsdóttir. In vielen anderen Ländern schaffen es Sportlerinnen nach der Geburt eines Kindes nicht zurück an die Leistungsspitze, auch wegen fehlender Unterstützung der Verbände. Und in Island? »Bei manchen Camps des Nationalteams sind unter den Spielerinnen fünf oder sechs Mütter dabei«, sagt Vilhjálmsdóttir mit ruhiger Stimme. Als wäre es das Normalste auf der Welt.
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