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Von Fischen und Geistern
Dating-Apps sind Alltag, doch viele hadern damit: Nutzer müssen sich Selbstoptimierung und Marktlogik beugen, sagt Psychologin Kleeberg-Niepage
Frau Kleeberg-Niepage, was hat Sie dazu gebracht, sich mit dem Phänomen Online-Dating zu beschäftigen?
Das kam tatsächlich so, dass eine Kollegin auf Tinder unterwegs war, in der frühen Zeit des Online-Datings. Sie hat sehr gerne mit uns die Bilder geteilt, die ihr dort von potenziellen Vorschlägen angezeigt wurden. Da waren so klassische Fotos dabei, zum Beispiel ein Mann mit halbnacktem Oberkörper und einem riesigen Fisch im Arm, also wirklich die lustigsten Sachen. Und dann ist es ja in der Wissenschaft oft so: Man denkt, das ist komisch, und dann fängt man an, nachzuforschen.
Dabei könnte man meinen, das Thema sei trivial ...
Na ja, am Anfang hatte es den Anschein, als wäre Online-Dating vor allem lustig oder spaßig und vielleicht auch ein bisschen oberflächlich. Das fanden wir aber bei näherer Beschäftigung überhaupt nicht. Und wir fanden es dann auch nach relativ kurzer Zeit gar nicht mehr so lustig, sondern haben gemerkt, dass sich da eigentlich ziemlich tiefgreifende gesellschaftliche Prozesse zeigen. Und dass Subjekte versuchen, individuelle Strategien zu entwickeln, um mit diesen Prozessen umzugehen. Wir haben Online-Dating als Phänomen für soziale Entwicklungen auf der Makroebene begriffen, könnte man sagen. Wir haben etwa 2017 begonnen, uns erste Gedanken zum Thema zu machen; und so richtig an die Öffentlichkeit – also an die wissenschaftliche Öffentlichkeit – sind wir dann 2019 gegangen.
Hier ging es vermutlich auch darum, das Phänomen überhaupt erst mal zu erfassen, die Art und Weise, wie die Plattformen funktionieren und wie die Menschen sie verwenden?
Genau. Also wenn ich jetzt mal ganz allgemein von der Nutzerseite aus spreche: Am Anfang war das ein riesiger Hype. Viele haben das sehr spielerisch genutzt – das war sozusagen das neue heiße Ding, und ich glaube, es hat vielen auch Spaß gemacht. Aber was wir im Verlauf beobachten konnten, ist: Der Lack ist doch ganz schön ab. Hier hat sich mittlerweile so etwas wie »Tindermüdigkeit« eingestellt, das hat sich inzwischen als Begriff verbreitet. Und das haben wir auch in unseren Interviews gemerkt: Es gab zwar immer auch Frustration oder Ärger, hier und da – aber dass Leute wirklich komplett desillusioniert sind, auf verschiedenen Ebenen, das beobachten wir erst seit zwei, drei Jahren so richtig deutlich. Viele Leute sehen dennoch keine Alternative mehr zum Online-Dating, weil sie die Kontaktaufnahme in der analogen Welt als schwierig empfinden, nicht nur wegen des möglichen Gesichtsverlustes, sondern auch, weil sie Sorge haben, das Gegenüber könnte sich belästigt fühlen. Dabei deuten unsere Daten interessanterweise das Gegenteil an: In den Interviews werden häufiger Anekdoten von Situationen erzählt, in denen die Interviewten dann doch einmal einfach angesprochen wurden – und die fanden das gar nicht schlimm, sondern eher erfrischend.
Andrea Kleeberg-Niepage ist Professorin für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Europa-Universität Flensburg. In ihrer Forschung befasst sie sich mit den Subjektperspektiven und Handlungspraktiken von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, beispielsweise bezogen auf ihr gegenwärtiges Leben und ihre Zukunftsvorstellungen, ihre digitale Mediennutzung sowie Liebe und Dating.
Sie meinten eben, dass sich über Dating-Apps generelle gesellschaftliche Tendenzen ablesen lassen. Können Sie das etwas genauer ausführen?
Also ein Punkt, der von Anfang an von verschiedenen Seiten stark kritisiert wurde, ist, dass dem Ganzen eine Marktlogik innewohnt. Dass man sich als Nutzerin oder Nutzer auf der Plattform quasi selbst anbietet, ein öffentliches Profil erstellt und sich also »auf den Markt« begibt. Das fanden wir erst mal nicht so problematisch – Dating als Markt, was auch mit ökonomischen Konsequenzen einherging, gab es ja auch vorher schon, egal ob analog oder digital. Was das mobile Online-Dating aber charakterisiert: Es funktioniert orts- und zeitunabhängig. Es ist sehr niedrigschwellig, ein Bild reicht im Prinzip, und dann kann es losgehen. Ich kann von überall und zu jeder Zeit schauen, ob sich jemand Passendes findet. Das führt zu einer merklichen Beschleunigung der Dating-Aktivitäten, was mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Beschleunigung korrespondiert: immer erreichbar sein, immer auf Abruf, immer in der Hoffnung, dass vielleicht noch jemand Besseres kommt. Auch eine Wettbewerbslogik ist sehr stark implementiert, die ist in den Apps schlicht angelegt; und die Nutzerinnen und Nutzer müssen damit umgehen und versuchen mitzuhalten.
Wie sieht das dann konkret aus?
Am Anfang haben viele erst mal Textbausteine entworfen, also einen Einleitungstext geschrieben, den dann alle Interessenten und Interessentinnen bekommen haben. Es wurden Strategien entwickelt, um das riesige Angebot irgendwie zu bewältigen. Die Unübersichtlichkeit hat bei manchen auch zu Frust geführt – oder zu Gegenstrategien. Manche haben gesagt: »Ich mache das jetzt nur noch einmal die Woche, ich entschleunige das.« Aber viele haben versucht mitzuhalten. Und dabei wurde oft auch Stress geäußert – zum Beispiel: »Ich bin auf der Arbeit, kann nicht online gehen, aber wenn jetzt gerade was Gutes dabei wäre, hätte ich es verpasst.«
Dieses »Hinterherhecheln« hinter bestimmten Trends war gerade im Anfangsstadium des Online-Datings ein riesiges Problem. Aus dieser Zeit stammt auch die These von der »Beschleunigung und Entfremdung«, die der Soziologe Hartmut Rosa 2005 in seinem gleichnamigen Buch aufgestellt hat. Dieses geht zwar noch vor die Zeit des mobilen Online-Datings à la Tinder zurück, dennoch schien uns Rosas These in unserer Anfangszeit der Dating-Forschung in den späten 2010er Jahren noch einmal so richtig Relevanz zu entfalten. Mobiles Online-Dating ist in unseren Augen ein Paradebeispiel für gesellschaftliche Beschleunigungsprozesse – und das in einem sehr intimen Bereich. Hier findet eine Art Verwertung des Privaten statt.
Können Sie sagen, welche Gruppen besonders unzufrieden sind mit dem Online-Dating und warum?
Also, das können wir aus unseren Daten so pauschal nicht ablesen. Die Zufriedenheit hängt natürlich immer auch davon ab, was man überhaupt möchte und was man dann bekommt. Wenn jemand zum Beispiel gerne eine romantische Beziehung hätte, aber immer wieder nur auf unverbindliche Kontakte stößt, dann ist man natürlich unzufrieden. Und jemand anders wiederum sucht gerade diese Unverbindlichkeit und kann das sogar als etwas sehr Positives empfinden, etwa weil es das Selbstbewusstsein stärkt oder einfach Spaß macht. Da gibt es ganz unterschiedliche Zugänge. Eine Motivstudie aus den USA, die wir für Deutschland wiederholt haben, ergab, dass viele Menschen nach einer ernsten Verbindung suchen, also wirklich einen Partner oder eine Partnerin finden wollen. Aber vielen geht es eben einfach auch um Spaß, sexuelle Kontakte und so weiter.
Um jemanden wirklich kennenzulernen, braucht es ja schon drei, vier Dates. Aber ein großes Thema beim Online-Dating ist das sogenannte Ghosting, also der plötzliche, unerklärte Kontaktabbruch.
Genau, das wollten wir uns auch genauer anschauen. Das ist eigentlich etwas Interessantes: Viele suchen nach festen, langfristigen Partnerschaften, aber eine richtige Chance geben sich die Leute oft gar nicht. Wenn da irgendetwas nicht hundertprozentig attraktiv erscheint, dann verabschieden sich viele direkt. Oder sie gehen kurz aufs Klo und tindern schon wieder weiter, ob es nicht noch ein besseres Date geben könnte. Also wenn jemand nur eine »9« ist auf einer imaginären 10er-Skala, dann denkt man vielleicht: Na, irgendwo wartet ja vielleicht noch die »10«.
Das ist schon eine sehr stark ausgeprägte Konsumlogik.
Ja, ganz genau. Das ist sozusagen die eine Seite: diese Steigerungslogik, in der wir alle leben. Und das andere ist, dass Online-Dating eigentlich etwas vornimmt, was der Idee von »Liebe auf den ersten Blick« vollkommen entgegensteht: Durch das Kennenlernen über die Plattformen versucht man, den Zufall auszuschalten. Liebe auf den ersten Blick dagegen – wenn es das überhaupt gibt – braucht ja gerade den Zufall. Es braucht ein Nicht-vorbereitet-Sein. Aber in der Vorbereitung auf diese geplanten Dates wird oft ein sehr hoher Aufwand betrieben, von kompletter Körperpflege über neue Kleidung bis hin zum gemeinsamen Durchgehen des Kleiderschranks mit Freund*innen. Und vielleicht klappt es so auch mal – ich will gar nicht sagen, dass das so nicht funktioniert mit dem Verlieben. Aber eigentlich braucht es auch ein kleines bisschen Unvorhersehbarkeit, um wirklich berührt zu werden und vielleicht auch mal die Kontrolle ein bisschen zu verlieren.
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Kann man sagen, hier verliert sich das Authentische?
Genau. Es existiert eine ausgeprägte Idee von Perfektion. Wir haben das mal »Tyrannei der Oberfläche« genannt.
Und wie verhält sich all das zum Phänomen des Ghostings, das ich angesprochen hatte? Das wird ja sehr stark mit Online-Dating assoziiert. Ist das wirklich so verbreitet? Und ist Ghosting überhaupt ein Spezifikum des digitalen Raumes?
Erst mal würde ich sagen, so etwas gab es früher auch. Da hieß es eben »Ich geh mal Zigaretten holen«, und die Person kam nicht wieder.
Zumeist Männer, oder?
Dazu habe ich keine Zahlen, aber das kann schon sehr gut sein. Jedenfalls ermöglichen mobile Online-Dating-Formate natürlich eine ganz andere Dimension des Ghostings. Das kann nun zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten passieren. Wenn man sich nur kurz geschrieben hat und merkt, es passt einfach nicht, ist das noch nachvollziehbar. Aber es kommt wirklich auch immer häufiger vor, dass man sich schon mehrfach verabredet hatte, es schon ein, zwei wirklich nette Dates gab, man das Gefühl hatte, da entwickelt sich etwas – und an dem Punkt verschwindet die Person plötzlich komplett. Und das ist sehr verletzend, auch wenn viele mittlerweile schon damit rechnen oder sagen: War ja klar. Je weiter das Verhältnis schon fortgeschritten ist, desto mehr tut es weh. Dass das so häufig vorkommt, liegt auch daran, dass viele einfach nicht mehr bereit sind, zu sagen: Du, ich glaube, das passt nicht. Das ist zwar tatsächlich unangenehm, aber man könnte doch wenigstens ehrlich sein. Doch das fällt vielen Menschen offensichtlich sehr schwer.
Wenn das so völlig überraschend passiert, fragen sich Leute ja auch, ob sie eigentlich in der Lage sind, die Realität richtig zu interpretieren.
Ja, das berichten uns viele Interviewte. Geghostet werden geht ans Selbstwertgefühl, aber lässt auch am eigenen Urteilsvermögen zweifeln. Und wenn man dann weiter datet, schwingt oft ein Misstrauen mit, denkt man vielleicht beim nächsten Mal schon: Männer sind alle so. Oder: Frauen wollen nur dies oder das. Und dann geht man mit einer gewissen Vorsicht oder Skepsis in neue Begegnungen, was dann wiederum neue Dynamiken auslöst. Wir können im Moment auch nur spekulieren, was genau da passiert. Hier könnten Bindungsängste eine Rolle spielen, die plötzlich aufbrechen, wenn sich etwas verdichtet und man sich wirklich näherkommt. Aber viele wissen offenbar nicht, wie sie mit diesen Situationen umgehen sollen, und ziehen sich halt einfach raus.
- Nutzer*innenzahlen: Weltweit verwenden über 366 Millionen Menschen Online-Dating-Apps – Tendenz steigend. Besonders in der Altersgruppe 18 bis 34 Jahre haben etwa 65 Prozent entsprechende Angebote ausprobiert.
- Kennenlernmodi: Online-Dating ist der zweitwichtigste Weg, eine Beziehung zu beginnen, direkt nach dem Kennenlernen im Freundeskreis. Ein Drittel der neuen Paare in Deutschland hat sich online kennengelernt.
- Erfolgsraten: 70 Prozent der digitalen Kontakte führen zu einem persönlichen Treffen, 40 Prozent zu einer Beziehung, 13 Prozent enden in einer festen Partnerschaft.
- Geschlechterverhältnis: Auf Plattformen wie Tinder sind rund 75 Prozent der Nutzer männlich.
- Sexismus und Misogynie: 57 Prozent der Frauen erhielten unerwünschte explizite Inhalte, 44 Prozent beleidigende Nachrichten, 19 Prozent fühlten sich bedroht. 60 Prozent der 18- bis 34-jährigen Frauen berichten, nach Ablehnung von einem Mann weiterhin kontaktiert worden zu sein. 51 Prozent der Frauen bewerten ihre Erfahrungen als negativ, bei Männern sind es 42 Prozent.
- Queere Nutzung: 51 Prozent der LGBT-Erwachsenen in den USA nutzen Dating-Apps, verglichen mit 28 Prozent der heterosexuellen Erwachsenen. Trans* und nicht binäre Personen empfinden Online-Dating oft als Schutzraum. 53 Prozent der queeren Nutzer*innen halten dennoch Block- und Report-Funktionen für essenziell.
- Ghosting: Über 70 Prozent der Nutzer*innen haben schon erlebt, dass der Kontakt ohne Erklärung abgebrochen wurde. Besonders jüngere Menschen »ghosten« häufiger. Als Gründe werden Konfliktvermeidung, fehlende emotionale Bindung und Reizüberflutung angegeben.
- Catfishing: Mit Identitätsbetrug durch gefälschte Profile sind etwa 25 Prozent der User*innen bereits konfrontiert worden.
- KI-Einsatz: Vermehrte Nutzung für Partnervorschläge, Chat-Textbausteine und Date-Coaching. Für mehr Sicherheit werden Video-Chats integriert.
- Künftige Entwicklungen: Derzeit erleben psychologisch fundierte Modelle wie Persönlichkeitstests ein Revival bei den Dating-Agenturen. Trends wie »Slow Dating« und »Value-Based Matching« sollen Reizüberflutung mindern und mehr Ernsthaftigkeit und Substanz in den Begegnungen gewährleisten.
Aber da wäre ja die Frage: Ist es heute schlicht einfacher, sich zu entziehen? Oder hat sich da wirklich auch etwas an der Beziehungsfähigkeit verändert?
Ja, das ist so ein bisschen das Problem von der Henne und dem Ei. Es wird ja der jüngeren Generation oft vorgeworfen, sie könne sich nicht mehr binden. Aber ich bin da vorsichtig. Viele jüngere Menschen heiraten trotzdem, führen Beziehungen, übernehmen Verantwortung. Aber was man sagen kann: Diese Möglichkeit, sich zurückzuziehen, ohne sich erklären zu müssen, die gibt es jetzt sehr viel stärker als vorher. Man kann sehr lange anonym bleiben. Wenn man nur in der App schreibt, keine Nummern austauscht und dann das Match auflöst, ist man weg. Einfach weg.
Das hinterlässt vermutlich Spuren – auf beiden Seiten.
Ja, absolut. Es verletzt natürlich die Person, die geghostet wurde. Aber auch die Person, die den Kontakt abbricht, kann das selbst als problematisch empfinden. Hier gibt es offenbar auch eine Wechselwirkung zwischen digitalem Raum und dem wirklichen Alltag. Einer unserer Interviewpartner hat zum Beispiel gesagt: Ich habe gemerkt, dass ich anfange, mich auch im analogen Leben so zu verhalten wie online. Ich bin richtig zum Arschloch geworden. Es gibt also Leute, die ihr Verhalten reflektieren und Konsequenzen ziehen – in beiden Welten, sozusagen.
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