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Neukölln-Komplex in Berlin: Viel Arbeit für die Zivilgesellschaft

Der parlamentarische Untersuchungsausschuss bleibt hinter den Erwartungen der Betroffenen zurück

  • Robin Maxime Pohl
  • Lesedauer: 6 Min.
Diese T-Shirts durften Angehörige der Initiative zur Erinnerung an Burak Bektaş nicht bei der Sitzung des Untersuchungsausschusses tragen.
Diese T-Shirts durften Angehörige der Initiative zur Erinnerung an Burak Bektaş nicht bei der Sitzung des Untersuchungsausschusses tragen.

Am Freitag fand die letzte öffentliche Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses zum sogenannten Neukölln-Komplex, einer neonazistischen Anschlagsserie, statt. Über drei Jahre hinweg waren in 49 Sitzungen 100 Zeug*innen aus Zivilgesellschaft, Polizei, Justiz und Verfassungsschutz geladen worden. Zuletzt mussten sich die beiden ehemaligen Senatoren Dirk Behrendt (Grüne) und Andreas Geisel (SPD) sowie der vormalige Staatssekretär Thorsten Akmann (SPD) den Fragen des Gremiums stellen. Nun soll bis zum Frühjahr 2026 ein Abschlussbericht erstellt werden. Dabei sind viele der Akten in den inzwischen 610 Bänden noch nicht ausreichend gesichtet.

Verfassungsschutz verweigert Akteneinsicht

Der Ausschussvorsitzende Vasili Franco (Grüne) berichtet gegenüber »nd« von Problemen beim Bereitstellen von Dokumenten, von denen viele erst im Frühjahr 2025 dem Ausschuss übergeben wurden: »Die Akten aus Februar 2025 bezogen sich gleichzeitig auf den Kernbestandteil des Untersuchungsausschusses, da sie den gesamten Inhalt der Arbeit der BAO Fokus umfassten.« Die Sonderermittlungsgruppe BAO Fokus wurde im Mai 2019 zur Aufklärung der Serie rechtsmotivierter Taten in Neukölln eingesetzt.

Franco sagt, Behörden hätten ihre Erkenntnisse bis heute nicht umfänglich zur Verfügung gestellt. »Vom Verfassungsschutz haben wir nur einen kleinen Teil der angeforderten Akten erhalten. Damit war eine effektive parlamentarische Kontrolle erschwert oder gar unmöglich.«

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Allerdings war es das erklärte Ziel des Untersuchungsausschusses, möglichen Mängeln im Handeln der Sicherheitsbehörden im Neukölln-Komplex auf den Grund zu gehen. Dabei handelt es sich um eine Serie von mindestens 72 neonazistischen Straftaten, zu denen auch 27 Brandanschläge gezählt werden. Die beiden Neuköllner Neonazis Sebastian T. und Tilo P. wurden Ende 2024 vor dem Berliner Landgericht unter anderem wegen zweier Brandanschläge in zweiter Instanz zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Fehlende Aufklärung der Fälle Burak Bektaş und Luke Holland

Auch vor dem Berliner Abgeordnetenhaus ist die Ernüchterung in Bezug auf das Handeln der Sicherheitsbehörden während des Untersuchungsausschusses deutlich spürbar. Verschiedene Unterstützungsstrukturen von Betroffenen der Anschläge haben parallel zur Ausschusssitzung zu einer Kundgebung aufgerufen. In Redebeiträgen berichten regelmäßig Besuchende der Sitzungen von dem Eindruck, dass Sicherheitsbehörden die Arbeit des Ausschusses systematisch blockiert hätten. Andere sprechen gar von einer spürbaren Selbstgerechtigkeit, die eine kritische Aufarbeitung nahezu verunmöglichte. Diese Schuldabwehr ist aus ihrer Sicht ein zentraler Grund, warum die Arbeit des Untersuchungsausschusses weit hinter den ursprünglichen Ansprüchen zurückgeblieben ist. Somit bleiben viele Fragen in Bezug auf den behördlichen Umgang mit rechter Gewalt in Neukölln offen.

Das gilt ebenfalls für die Aufklärung von zwei weiteren wahrscheinlich rechtsmotivierten Tötungsdelikten in Neukölln. Im Jahr 2012 wurde Burak Bektaş auf offener Straße erschossen. Der Täter entkam unerkannt. Ein rechter Hintergrund der Tat konnte bis heute nicht ausgeschlossen werden. Drei Jahre später wurde Luke Holland vor einer Neuköllner Bar erschossen. Obwohl in der Wohnung des Täters Neonazi-Devotionalien gefunden wurden, spielte ein möglicher rechter Hintergrund bei der Verurteilung keine Rolle.

Trotz der Parallelen im Ablauf der beiden Taten konnten die ermittelnden Behörden bis heute keine Verbindung nachweisen. Entsprechend groß waren die Hoffnungen der Angehörigen in Bezug auf die Arbeit des Untersuchungsausschusses. Doch nach jetzigem Stand konnten keine neuen Erkenntnisse erlangt werden. Stattdessen wurde den Angehörigen der Initiative zur Erinnerung an Burak Bektaş am Freitag von Mitarbeitenden des Abgeordnetenhauses verboten, bei der Teilnahme an der Sitzung des Ausschusses ihre Gedenkshirts mit der Aufschrift »Burak unvergessen« zu tragen.

Aufarbeitung des Neukölln-Komplexes muss weitergehen

Die Aufklärung neonazistischer Gewalt in Neukölln muss somit auch nach der letzten Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses weitergehen. Niklas Schrader, der innenpolitische Sprecher der Linken im Abgeordnetenhaus, sieht die Aufklärung als nicht beendet an. Dementsprechend macht er sich dafür stark, politische Konsequenzen einzufordern: »In den Behörden läuft so viel falsch und schief. Da muss sich einiges ändern«, sagt er zu »nd«. Für die Betroffenen ist jedoch klar, dass es für Veränderungen vor allem einen konstanten öffentlichen Druck auf Behörden und Stadtpolitik braucht.

Die Einrichtung des Untersuchungsauschusses ist für Claudia von Gélieu das Ergebnis eines solchen ausdauernden Engagements: »Es wurde nur etwas gemacht, wenn Betroffene, Zivilgesellschaft und Teile der Presse das Thema immer wieder öffentlich gemacht haben.« Von Gélieu ist selbst Betroffene der Anschlagserie. 2017 zündeten Unbekannte in Rudow das Auto der Publizistin an, die für ihr Engagement gegen rechts im Stadtteil bekannt war. Im Verlauf des Untersuchungsausschusses verfolgte sie fast jede Sitzung persönlich. Sie hofft, dass im kommenden Jahr auch die Wortprotokolle der Vernehmungen veröffentlicht werden: »Es ist wichtig, nun im Abschlussbericht das Gesamtbild zusammenzutragen. Für eine umfassende zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Aufarbeitung müssen auch die Wortprotokolle veröffentlicht werden.«

»Vom Verfassungsschutz haben wir nur einen kleinen Teil der angeforderten Akten erhalten. Damit war eine effektive parlamentarische Kontrolle erschwert oder gar unmöglich.«

Vasili Franco (Grüne)
Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex

Ob es jedoch dazu kommen wird, ist unklar. Der Ausschussvorsitzende Vasili Franco erwartet, dass die Wortprotokolle in Gänze nicht in den Bericht aufgenommen würden. Lediglich Auszüge könnten unter Umständen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Die Initiative im Gedenken an Burak Bektaş fordert, dass der Abschlussbericht »bis Ende 2025 öffentlich vorliegt, damit eine gesellschaftliche und parlamentarische Debatte vor den Neuwahlen im September 2026 möglich ist«, und »die Benennung aller Aktenbestände, die die Behörden nicht zur Verfügung gestellt haben«.

Somit scheint in den kommenden Monaten noch viel Arbeit auf die Betroffenen und ihre Unterstützer*innen zuzukommen, um vielleicht doch noch eine Veröffentlichung der Protokolle zu erreichen. Für sie wäre die Transparenz im Abschlussbericht ein wichtiger Schritt, um auch unabhängig von den Blockaden in den Sicherheitsbehörden neue Erkenntnisse zum Neukölln-Komplex zu gewinnen und so eine Aufklärung von unten zu ermöglichen.

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