- Wirtschaft und Umwelt
- Ernährungsarmut
Hunger nach Industrie
Die Tafeln sind weiterhin überlastet. Sie erweitern ihre Kooperation deshalb vom Handel zur Lebensmittelindustrie
Durch die Folgen von Inflation und des Kriegs in der Ukraine stieg der Tafelbedarf in den vergangenen fünf Jahren um durchschnittlich 50 Prozent, zugleich stagnierte die Zahl der Lebensmittelspenden oder ging sogar zurück. So lautet die Bilanz der Tafeln auf ihrem Bundestreffen in Hannover dieses Wochenende. Für die 75 000 Helfer*innen seien es »kräftezehrende Jahre« gewesen.
Andreas Stepphuhn, Vorsitzender der Tafel Deutschland fordert deswegen in einer Pressemitteilung zum wiederholten Mal eine »soziale Zeitenwende«: »Armut braucht weniger Scham, sondern stattdessen mehr Sichtbarkeit und Stimme, damit ihre Ursachen politisch bekämpft werden können.« Das Ausmaß der Armut in Deutschland sei vielen immer noch nicht bewusst.
Das Konzept der Tafeln ist simpel: Sie versorgen Menschen mit Lebensmitteln aus dem Handel, die anderenfalls entsorgt würden. Erstmals schlug die Hilfsorganisation im Frühling 2024 Alarm – sie sei überlastet und müsse Hungrige abweisen. Noch immer kann ein Drittel der Tafeln keine neuen Personen aufnehmen, hat Zulassungsstopps oder Wartelisten eingeführt. Dabei ist die größte Herausforderung die Versorgung mit Lebensmitteln – 67 Prozent der Einrichtungen klagen über unzureichend gerettete Produkte, nur 30 Prozent fehlt es an Ehrenamtlichen.
»Armut braucht weniger Scham, sondern stattdessen mehr Sichtbarkeit und Stimme, damit ihre Ursachen politisch bekämpft werden können.«
Andreas Stepphuhn Tafel Deutschland
Um das zu ändern, setzen die Tafeln neuerdings auf Digitalisierung und verbesserte Logistik. Die neu gegründete Allianz für Lebensmittelrettung arbeitet mit Lebensmittelüberschüssen aus der Industrie – dort blieben laut Tafeln mehr Produkte übrig als im Einzelhandel. Dazu gehören etwa verpackte Waren mit nahendem Haltbarkeitsdatum oder Fehldispositionen. Auf Anfrage von »nd«, warum Kooperationen mit der Industrie nicht schon früher eingegangen worden seien, antworteten Sprecher*innen der Tafel Deutschland bis Redaktionsschluss nicht.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. sind derzeit etwa drei Millionen Menschen im Land von Ernährungsarmut betroffen. Das bedeutet, sie können sich kein gesundes Essen leisten. Insgesamt besuchen 1,5 Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig die Tafeln. Sie benötigen dazu einen Berechtigungsschein als Nachweis ihrer »Bedürftigkeit«. 30 Prozent von ihnen sind Kinder und Jugendliche, 18 Prozent Rentner*innen, 18 Prozent beziehen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und 48 Prozent beziehen Bürgergeld.
Die Regierung plant derzeit eine Senkung der Gesamtausgaben im Bürgergeld durch »wachstumsfördernde Maßnahmen« am Arbeitsmarkt. So soll die Anzahl der Beziehenden zurückgehen, so die Kalkulation. Das solle sich aber nicht auf die Arbeit der Tafeln auswirken, heißt es dazu gegenüber »nd« aus dem SPD-geführten Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). »Die Arbeit der Tafel schätzen wir als wichtiges Engagement. Wir sind uns mit den Tafeln allerdings einig, dass deren Angebot kein Bestandteil des sozialen Sicherungssystems ist, sondern ein ergänzendes, karitatives Angebot«, teilt eine BMAS-Sprecherin mit.
Auch ohne Kürzungen sei die Situation jedoch bereits angespannt, so Stepphuhn: »Seit 2021 sind die Lebensmittelpreise um 30 Prozent gestiegen. Die Einkommen, Renten und Sozialleistungen wurden hingegen nur geringfügig angepasst.« Für Menschen mit wenig Geld habe sich die Situation deshalb »dramatisch verschärft«. Und damit auch der Andrang bei den Tafeln.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.