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Hochrisiko-Beruf: Journalist in Gaza
Sheila Mysorekar über palästinensische Medienschaffende, die unter Lebensgefahr aus dem schmalen Küstenstreifen berichten
Vor wenigen Tagen wurde ein TV-Team der Deutschen Welle von israelischen Siedlern im Westjordanland angegriffen. Das berichtet die »Zeit« und verurteilt diese Attacke. Auch die »Jüdische Allgemeine« sprach von Angriffen seitens »radikaler« bzw. »extremistischer jüdischer Siedler«. Sogar die Tagesschau, die Nachrichten über Palästina oft windelweich formuliert, schob einen Absatz der Einordnung hinterher: »In den vergangenen Jahren hat sich der Bau jüdischer Siedlungen noch einmal beschleunigt. Die meisten Staaten sehen diese Aktivitäten als illegal an. Erst im Sommer 2024 bewertete der Internationale Gerichtshof die Besatzung in einem Gutachten als völkerrechtswidrig.« Chapeau, Tagesschau! So klar hört man das selten bei euch.
Bei aller berechtigten Empörung über den Angriff auf das Fernsehteam der Deutschen Welle vermisse ich eins: die Erwähnung all der palästinensischen Journalist*innen, die seit Beginn des Gaza-Krieges getötet wurden. Laut der internationalen Journalistenorganisation Committee to Protect Journalists (CPJ) sind es 185 Medienschaffende. Mindestens 17 von ihnen sind gezielt getötet worden, was CPJ als »Mord« klassifiziert. Reporter ohne Grenzen nennt die palästinensischen Gebiete – vor allem Gaza – »derzeit den gefährlichsten Ort der Welt« für Journalist*innen.
Aber Gaza ist nicht nur ein äußerst gefährlicher Ort für Medienschaffende, sondern ein äußerst gefährlicher Ort für alle Menschen, mit massiven Bombardierungen auf kleinstem Raum: Der Gazastreifen in seiner gesamten Ausdehnung ist ungefähr so groß wie die Fläche der Stadt Köln, sogar noch etwas kleiner. Aber es leben doppelt so viele Leute dort. Etwas über eine Million Menschen wohnt in Köln; etwas über zwei Millionen Menschen leben in Gaza. Und sie sind im Durchschnitt viel jünger als die Leute in Köln: Mehr als die Hälfte der Einwohner*innen des Gaza-Streifens ist jünger als 20 Jahre alt. 300 000 von ihnen – die größte Bevölkerungsgruppe – sind nicht einmal vier Jahre jung, also Babys und Kleinkinder. Das heißt, wenn von Zivilist*innen die Rede ist, die vom Krieg betroffen sind, geht es zum Großteil um Kinder und Jugendliche.
Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk postmigrantischer Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Schwarz auf Weiß«. Darin übt sie Medienkritik zu aktuellen Debatten in einer Einwanderungsgesellschaft.
Seit mehr als anderthalb Jahren werden diese zwei Millionen Menschen auf einem Gebiet, das kleiner ist als Köln, hin- und hergejagt. Und bombardiert. Das läuft folgendermaßen ab: Flugblätter werden abgeworfen, Drohnen mit Lautsprechern warnen vor einem bevorstehenden Angriff und erklären einen bestimmten Bezirk zum »sicheren Ort«, wo sich die Leute bis zu einer bestimmten Uhrzeit einfinden müssten, weil alles andere bombardiert wird.
Das ist in etwa so, als ob man in Köln sagen würde: Bis morgen Mittag müsst ihr alle auf der rechten Rheinseite sein, denn das linksrheinische Zentrum – die Innenstadt – wird zerbombt. Also brechen alle so schnell wie möglich auf, mit Autos, Handkarren, Gepäck, die meisten zu Fuß. Abertausende Menschen, auf der Flucht über die Rheinbrücken, so weit von der Innenstadt entfernt wie möglich. Aber wenn sie angekommen sind, fallen auch dort Bomben. Und dann kommt der nächste Befehl: der neue Zufluchtsort ist Sülz, ein Stadtteil auf der linken Rheinseite. Also so schnell wie möglich zurück ins linksrheinische Gebiet.
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Aber die Brücken zur Innenstadt sind nun gesperrt; daher rennen alle panisch zu einer Brücke weiter im Süden, um dem nächsten Bombardement zu entgehen. Hunderttausende Menschen, die versuchen, sich in wenigen Stunden von den zerbombten rechtsrheinischen Gebieten, über eine einzige Brücke, durch die Trümmer der Innenstadt bis zum Stadtteil Sülz durchzuschlagen, wo man nur in Zelten hausen kann.
In Köln waren am Ende des knapp sechsjährigen Zweiten Weltkrieges, nach 262 Fliegerangriffen auf die Stadt, 80 Prozent aller Gebäude zerstört. In Gaza sind bereits 69 Prozent aller Gebäude durch den Beschuss unbewohnbar geworden. In diesen anderthalb Jahren des Krieges sind die meisten Menschen in Gaza bereits bis zu zehnmal vertrieben worden. Alle Einwohner*innen sind jetzt auf nur noch 20 Prozent der Oberfläche des Gazastreifens zusammengedrängt worden. Vergleichbar mit Köln wäre das, als würden in der Kölner Innenstadt – nur in diesem Bereich – eine halbe Million Vertriebene in Zelten wohnen.
Die Menschen in Gaza hungern; es gibt kaum noch Essen und Trinkwasser. 94 Prozent aller Krankenhäuser sind beschädigt oder zerstört.
Wir müssen über diese ungeheure humanitäre Katastrophe sprechen: über mindestens 50 000 Tote, über abertausende vermisste Kinder, die wahrscheinlich unter Trümmern begraben liegen. Andere Kinder, die ihre Eltern verloren haben, und allein in diesem Chaos umherirren.
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Ich persönlich habe keinerlei familiäre Verbindungen nach Gaza oder in den Nahen Osten, und Sie wahrscheinlich auch nicht. Aber ich habe eine Verbindung als Journalistin zu allen Journalist*innen in Gaza; Kolleg*innen, die unter Lebensgefahr weiterhin berichten. Und ich habe eine Verantwortlichkeit als Mensch gegenüber allen anderen Menschen dort, den Zivilist*innen, Kindern und Jugendlichen, die bombardiert, beschossen, vertrieben und ausgehungert werden. Dieses Massaker muss aufhören – und zwar sofort.
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