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Fashiontrend: Bedrucktes Papier
Möchten Sie aller Welt zeigen, dass Sie sich mit Mode auskennen? Unsere Kolumnistin Sheila Mysorekar hat einen Tipp
Normalerweise gehöre ich nicht zu den Leuten, die bei jedem neuen Trend ganz vorne mit dabei sind. Schuhe mit hohen dicken Absätzen, Schuhe mit niedrigen dünnen Absätzen, alles egal – ich habe Schuhe, in denen ich gehen kann, das muss reichen. Beliebte Serien gucke ich erst, wenn sie ein paar Jahre alt sind und irgendwo in einer kostenlosen Mediathek liegen. Elektronische Gadgets kaufe ich dann, wenn jeder sie hat, nämlich sobald sie erschwinglich sind, und keinen Moment früher. Also, den neuesten Trends hinterherjagen ist nicht meins. Eigentlich.
Aber bei einer Sache bin ich ganz vorne dabei: der neue Hot Shit sind nämlich Bücher. Genau, Bücher. Bedrucktes Papier. Davon habe ich massenhaft, ganze Regale voll. Und die meisten habe ich tatsächlich gelesen. Ja, da staunen Sie, oder? Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: ich lese Bücher schon seit Jahrzehnten! Diesmal habe ich definitiv einen krassen Modetrend gesetzt, sowas von angesagt.
Neuerdings lassen sich Prominente mit Büchern unterm Arm fotografieren, als wäre es eine teure Prada-Handtasche. Bei Modeschauen in Mailand liefen die Models mit Büchern von Susan Sontag und Hannah Arendt über den Laufsteg. Ein Buch als das ultimative Accessoire – man sieht gleichzeitig trendy und schlau aus; das kriegt ein Perlenarmband gar nicht hin. Die Modezeitschrift »Vogue« nennt Bücher ein »Fashion-Statement«. Tja, ich bin so dermaßen trendy und hip, das hättet ihr mir vor ein paar Jahren noch gar nicht zugetraut.
Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen, einem Netzwerk postmigrantischer Organisationen. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Schwarz auf Weiß«. Darin übt sie Medienkritik zu aktuellen Debatten in einer Einwanderungsgesellschaft.
Und diese neuartige Mode – man nennt es »Bücher lesen« – greift wirklich rasant um sich: Auf TikTok empfehlen Jugendliche ihre Lieblingsbücher. »BookTok« kann Bücher zu Bestsellern machen; es handelt sich keinesfalls nur um Feelgood-Romane minderer Qualität. Das haben auch Verlage mitbekommen.
Neulich habe ich ein Sachbuch über den Bürgerkrieg in Nordirland gekauft. Hintendrauf waren Empfehlungen gedruckt; in kleiner Schrift stand da, dass die »New York Times«, die »Washington Post«, das »Wall Street Journal« und andere Medienhäuser dieses Buch als »Bestes Buch des Jahres« gewählt hatten. Und oben drüber stand, in doppelt so großer Schrift und fettgedruckt, dass dies ein »Dua Lipa Best Book« sei.
Falls Sie aus der Bücherwurm-Ecke kommen und jetzt verwirrt sind: Dua Lipa ist eine sehr erfolgreiche Popsängerin. Und sie hat einen Literaturclub, wo sie Bücher empfiehlt, die dann sofort auf die Bestsellerlisten kommen. Eine Empfehlung von Dua Lipa ist für ein Buch heutzutage sehr viel wichtiger als die Empfehlung von beispielsweise der »New York Times«.
Dieses Phänomen ist allerdings nicht gänzlich neu. Die bekannte amerikanische TV-Moderatorin Oprah Winfrey hat seit rund 30 Jahren einen Literaturclub und stellt ihre Lieblingsbücher vor, die auch unbekannte Autor*innen sofort ins Rampenlicht rücken. Heutzutage sprechen »BookTok« oder Prominente wie Dua Lipa vor allem junge Leute an und erreichen damit Abertausende potenzielle Leser*innen, die vielleicht sonst nicht zu einem Buch gegriffen hätten.
In Zeiten der digitalen Fremdbestimmtheit zeigt der Trend zur gedruckten Literatur möglicherweise die Sehnsucht nach dem Analogen, Langsamen, zur Handy-Auszeit. Der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan deklarierte bereits 1962 in seinem Buch »Die Gutenberg-Galaxis« das Ende des Buchzeitalters. Lange Zeit schien es, als würde er Recht behalten – elektronische Medien sind allgegenwärtig und bestimmen unsere Kommunikation auf jeder Ebene.
Aber das Buch ist alles andere als tot. Die Zahl der Neuerscheinungen in Deutschland sinkt zwar leicht von Jahr zu Jahr, die Verkaufszahlen hingegen nicht – bei der Belletristik und bei Kinder- und Jugendbüchern legt der Handel sogar noch zu. Das sieht sehr viel besser aus als – sagen wir mal – in der Autobranche. Der Trend zum Drittbuch hat sich durchgesetzt.
Und für kurze Zeit gab es sogar eine Bibliothekarin-Modesaison, der »Librarian Core«, wo die modebewusste Frau auf einmal Twinsets und Faltenröcke trug, und dazu, wie die Zeitschrift »Für Sie« schrieb, »eine schmale Lesebrille natürlich, die als Key-Piece des Librarian Core gilt und auch ohne Stärke getragen werden kann.«
Da war ich leider nicht schnell genug. Faltenröcke habe ich keine, also muss ein Buch unterm Arm als Fashion Statement genügen. Muss man ja nicht lesen.
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