Angriff auf die Mobilisierer

Russland zerstört ukraini­sche Rekrutierungs­zentren und erntet dafür Zustim­mung bei Ukrainern

  • Bernhard Clasen
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein zerstörtes Mobilisierungsbüro in Charkiw. Die Angriffe auf die verhassten TZK werden von vielen Ukrainern in sozialen Medien begrüßt.
Ein zerstörtes Mobilisierungsbüro in Charkiw. Die Angriffe auf die verhassten TZK werden von vielen Ukrainern in sozialen Medien begrüßt.

Russland ändert seine Angriffsstrategie in der Ukraine. Seit Anfang Juli setzt Moskau verstärkt auf gezielte Drohnenattacken gegen Rekrutierungszentren der ukrainischen Armee TZK. Nach den ersten derartigen Angriffen in Poltawa folgten Schläge gegen Zentren in Krementschuk, Krywyj Rih, Charkiw und Saporischschja. Am Freitagmorgen soll es Odessa getroffen haben.

In der Ukraine geht man davon aus, dass Russland mit dem Beschuss der TZK die Mobilisierung stören und so die Verteidigungsfähigkeit schwächen und das Land destabilisieren will. Die fortgesetzten Angriffe auf die Rekrutierungszentren könnten dazu führen, dass sich Bürger aus Angst weigern, diese Einrichtungen aufzusuchen, fürchtet Witalij Saranzew, Sprecher der Landstreitkräfte der Ukraine.

Russland will ukrainische Mobilisierung erschweren

Saranzew zufolge verfolgen die russischen Angriffe zwei zentrale Ziele: Zum einen sollen physisch vorhandene wichtige Daten über mobilisierte Personen vernichtet werden. Zum anderen solle gezielt Feindseligkeit gegenüber den Rekrutierungszentren unter der Zivilbevölkerung geschürt werden – insbesondere bei Anwohnern, die in der Nähe solcher Einrichtungen leben.

»Die Besatzer hoffen, dass die Menschen, die durch die Nähe zu den Angriffszielen bedroht werden, eine ablehnende Haltung gegenüber den Rekrutierungszentren entwickeln und möglicherweise sogar aktiv gegen sie vorgehen«, so Saranzew. Die Armee, so der Sprecher weiter, reagiere schnell auf die neue Bedrohungslage und werde die Arbeit der Mobilisierer umstrukturieren.

Ein Teil der Arbeit soll künftig digital geschehen. Die Mitarbeiter der TZK sollen auch sicher im Homeoffice arbeiten können. Die App Reserv+, mit der Wehrpflichtige mit den Rekrutierungsbüros kommunizieren müssen, solle sicherer gestaltet werden. Insgesamt, so Saranzew, laufe die Mobilisierung wie geplant weiter.

Mobilisierer sind in der Bevölkerung verhasst

Diese Worte werden in der Ukraine viele nicht gerne hören. Denn mit den Angriffen auf die TZK trifft Russland einen Nerv: Die Zentren sind in der ukrainischen Bevölkerung verhasst. Für die Jagd auf Männer im wehrpflichtigen Alter hat sich bereits der Begriff »Bussifizierung« eingebürgert.

Dass die Rekrutierungszentren in der Bevölkerung unbeliebt sind, gibt man auch von offizieller Seite zu. Immer wieder komme es zu aggressivem Verhalten seitens der Bevölkerung gegenüber Vertretern der TZK, zitiert der öffentlich-rechtliche Sender Suspilne Militärsprecher Roman Halasjuk aus Sumy. Eine Einberufung sei nun mal staatlicher Zwang, so Halasjuk. »Und wenn jemand zu etwas gezwungen wird, kann die Reaktion unterschiedlich ausfallen. In 90 Prozent der Fälle reagieren die Menschen sehr heftig, unangemessen – sowohl gegenüber Vertretern der TZK als auch der Polizei.« Die brutalen Übergriffe der Mobilisierer, die bereits mehrere Männer totprügelten, erwähnt er indes nicht.

Im Netz ist die Freude über die Angriffe groß

In den sozialen Netzwerken, insbesondere auf Telegram, lassen viele Nutzer ihrer Schadenfreude über die Angriffe auf die Mobilisierungsbüros freien Lauf und sorgen damit für Ärger bei Offiziellen und auch Soldaten.

In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Unian sprach sich der ehemalige Kommandeur des Bataillons Ajdar, Jewhen Dikyj, für harte Maßnahmen gegen Ukrainer aus, die öffentlich ihre Freude zeigen. Solche Äußerungen, fordert Dikyj, müssten als Hochverrat gewertet und strafrechtlich verfolgt werden. Besonders besorgniserregend sei für den früheren Bataillonskommandeur, dass die Freude über die russischen Angriffe nicht Teil einer aus Moskau gesteuerten Kampagne sind, sondern oft die echte Meinung ukrainischer Bürger widerspiegelt.

»Wer sich offen über Angriffe auf unsere Rekrutierungszentren freut, ist nicht nur ein nützlicher Idiot – er ist ein Mensch, der sich klar auf die Seite des Feindes gestellt hat. Solche Personen müssen als Verräter behandelt werden«, so Dikyj. Seiner Ansicht nach müsse jeder einzelne entsprechende Kommentar vom Inlandsgeheimdienst SBU überprüft und strafrechtlich verfolgt werden.

Fahnenflucht nimmt weiter zu

Die schleppende Mobilisierung ist für die ukrainische Armee nicht das einzige Problem. Es gebe weiterhin eine massive Fahnenflucht, schreibt der Ex-Soldat und Journalist Wolodymyr Bojko. Im ersten Halbjahr 2025 sind laut Statistik der Generalstaatsanwaltschaft 92 696 Fälle des Fernbleibens von der Truppe und 13 237 Fälle von Fahnenflucht bekannt. Im Schnitt sind das knapp 18 000 Fälle pro Monat.

Diese Zahlen sind umso besorgniserregender, da seit Kriegsbeginn insgesamt 230 804 Anklagen wegen Fahnenflucht ergangen sind. Die wahren Ausmaße seien aber bedeutend größer, ordnet Bojko ein. Denn lange Zeit wurden Fälle von Fahnenflucht nicht systematisch erfasst. Hinzu kommt, dass Deserteure oft auch gar nicht gesucht werden. »Infolgedessen hat die ukrainische Armee keine Infanterie mehr. Überhaupt keine. Die Infanterie ist entweder auf der Flucht, in Krankenhäusern oder auf dem Friedhof«, fasst Bojko die Lage zusammen.

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