Ukraine: Keinen Bock aufs Verheiztwerden an der Front

Ukrainische Männer vernetzen sich untereinander, um Rekrutierern auszuweichen

  • Bernhard Clasen, Kiew
  • Lesedauer: 3 Min.

Gespannt schaut Ihor auf sein Smartphone, liest die neuesten Wetternachrichten für Kiew. »U-Bahn-Stationen Chreschtschatik, Universität und Bahnhof sonnig. Starker Regen und Hagel an der Stadtgrenze Richtung Irpin. Bitte dort keine Sammeltaxis benutzen!«, heißt es auf einem Telegram-Kanal. Der 32-Jährige lacht: »Natürlich geht es da nicht ums Wetter. Auf diesem Kanal kann man herausfinden, wo sie gerade stehen, die Männer von der Wehrbehörde. Die muss ich umfahren auf dem Weg zur Arbeit.« Früher habe ein Telegram-Kanal offen berichtet, wo die Rekrutierer stehen, die Ausschau halten nach Männern im wehrfähigen Alter. Doch die Betreiber des Kanals sollen strafrechtlich belangt worden sein, weil sie Militärgeheimnisse veröffentlicht hätten. Seitdem gibt es die Nachrichten nur noch verschlüsselt.

Jeden Morgen hat der Automechaniker Angst, dass sie ihn erwischen könnten. »Wenn dich die Männer vom TZK anhalten, gibt es genau drei Möglichkeiten«, erzählt er. »Entweder du hast ein Papier dabei, das beweist, dass du aktuell vom Militärdienst befreit bist. Dann lassen sie dich sofort wieder gehen. Oder sie fordern dich auf, eine Einberufung zu unterschreiben. Da steht dann schon drauf, wann und wo du dich melden musst.« Wenn man aber bereits eine Einberufung erhalten, dieser jedoch nicht Folge geleistet habe, werde man bei einer solchen Kontrolle sofort festgenommen. »Und dann geht es, nach einer kurzen Ausbildung, an die Front.« Er tue alles, um dem Kriegsdienst zu entgehen, aber wenn sie seiner habhaft würden, werde er sich nicht widersetzen, sagt Ihor.

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Er ist jedenfalls genau der Typ Mann, den das ukrainische Militär gerade händeringend sucht. Das mittlere Alter der Soldaten betrage mittlerweile 40 Jahre, klagt Alexej Tarasenko, Kommandeur der fünften Sturmbrigade, im »Telemarathon«, der auf allen ukrainischen Fernsehkanälen laufenden Nachrichtensendung. Der Mangel an Personal an der Front sei groß, weiß er zu berichten: »Wir brauchen dringend junge Männer.« Die »Qualität« des aktuellen Personals lasse sehr zu wünschen übrig, so Tarasenko weiter. Ältere Männer hätten nun mal alle möglichen, auch gesundheitliche Probleme, meint der Kommandeur.

Damit das nicht so bleibt, wird kräftig mobilisiert. Zuständig sind die 2022 geschaffenen Wehrämter (TZK). Sie lösten die Territorialen Zentren für die Wehrerfassung und soziale Unterstützung ab, die Militärkommissariate, wie diese Behörden zu Zeiten der Sowjetunion hießen.

»Mein Chef hat gut lachen« sagt Olha, Zahnarzthelferin im Kiewer Stadtteil Obolon. »Er kennt jemanden vom TZK, schiebt diesem Mann immer wieder etwas Geld rüber – und braucht deswegen keine Angst vor einer Einberufung zu haben.« So viel Glück, so viel Geld habe ihr Bruder nicht, erzählt sie. Und deswegen verbringe der die meiste Zeit zu Hause.

Immer wieder ist das TZK wegen Korruptionsvorwürfen ins Gerede gekommen. Für großes Aufsehen hatte Jewhen Borisow im letzten Sommer gesorgt. Er soll »weiße Tickets«, also Untauglichkeitsbescheinigungen, verkauft haben. Journalisten war der ungeheure Borisows aufgefallen, der zu dieser Zeit Chef des TZK von Odessa war. Seit 24. Juli ist Borisow in Untersuchungshaft, ihm droht eine Gefängnisstrafe von bis zu zwölf Jahren.

Den Unmut vieler Bürger hatte sich Ende Dezember auch Oleg Jazutschenk zugezogen. Der Mitarbeiter des TZK von Ternopol hatte in den sozialen Medien ein Foto gepostet, das ihn an einem Strand in der Dominikanischen Republik zeigt.

Erzürnt von solchen Nachrichten, hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj im August 2022 die Entlassung aller TZK-Chefs angeordnet. Geändert hat sich trotzdem nichts. Vor allem in Odessa gibt es massiv Razzien in Bussen und Straßenbahnen. Illegal, wie der Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments, Dmytro Ljubinez, jetzt durchblicken ließ. Denn das TZK, so stellte er diese Woche klar, hat kein Recht, Ausweise zu kontollieren und Menschen festzunehmen.

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