Brosius-Gersdorf: Doch keine GroKo-Stille

Beim ersten Kräftemessen zwischen Union und SPD beobachtet Sarah-Lee Heinrich eine ungleiche Dynamik

Im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
Im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

I stand corrected. In meiner Kolumne im April erfreute ich mich noch an der Reibungslosigkeit, mit der die GroKo ins Amt gestartet ist, im Vergleich zum Ampel-Horror der letzten Jahre.

Das hat sich mit der Richter-Nichtwahl erledigt. Bei einer gefühlten Nichtigkeit, einer Richterin, deren Positionen der Union nicht passen, findet ein erstes Kräftemessen statt. Was wird bei den Fragen passieren, die echte politische Richtungsentscheidungen sind? Fragen, bei denen es um weitgehende Eingriffe in die Grundrechte gehen wird? Bei denen Milliarden von Euro verteilt werden sollen? Wir sollten nicht erwarten, dass die Projekte so kommen, wie sie im Koalitionsvertrag stehen. Es wird schlimmer werden.

Interessant ist, dass der rechte CDU-Flügel hier seine Möglichkeiten testet und in die Offensive geht. Und die SPD? Sie hat »immer gestanden, egal wie schlimm die Entscheidung war«, sagte der parlamentarische Geschäftsführer der Partei, Dirk Wiese. Daran wird sich voraussichtlich nichts ändern. Es ist dieselbe Rolle, in der die Grünen bis zum bitteren Ende der Ampel ausgeharrt haben.
Sichtbar wurde das zuletzt bei der Abstimmung zur Abschaffung des Familiennachzugs. Die Zustimmung der SPD sorgte für harte Kritik von links. Sie rechtfertigten ihre Zustimmung damit, dass man das nun mal so im Koalitionsvertrag ausgemacht hat. Und sie werden sich dann wieder wundern, dass der CDU für die Anliegen, die sie lieber noch mal anders haben will, der Koalitionsvertrag ziemlich egal ist.

Es ist eine ungleiche Dynamik. Die Regierung wird weiter nach rechts driften, als sie es sowieso schon war. Es ist unwahrscheinlich, dass die SPD dagegenhalten kann. Ihr fehlen dafür die Machtmittel und der Rückenwind aus der Gesellschaft mittlerweile sowieso.

Die politische Rechte ist wach. Und wir? Wann kommt die politische Linke in die Offensive?

Sarah-Lee Heinrich

Sarah-Lee Heinrich weiß, was Armut bedeutet. Die Ex-Sprecherin der Grünen Jugend ist in einem Hartz-IV-Haushalt aufgewachsen und engagiert sich seit vielen Jahren gegen soziale Ungleichheit. Sie wirbt für klassenbewusste Ökologie und schreibt jeden zweiten Montag im Monat in »nd.Digital« über Alltag und Ampel.

An sich sollten wir nicht so viel Angst vor einer instabilen Regierung haben. Immerhin lehnen wir ihr politisches Programm ab! Aufrüstung innen und außen, Angriffe auf Arbeitsrechte und den Sozialstaat, Abschaffung der Asylrechte. Für all das braucht es gar keine AfD, das schafft die »Mitte«-Koalition selbst.

Ihre Widersprüche und Bruchstellen sind Ansatzpunkte für Interventionen von links, insofern man die Kraft für eine Intervention mobilisieren kann. Eine Chance also.

Gleichzeitig verspüre ich in meinem linken Umfeld und auch bei mir Vorsicht. Als wäre es ein Spiel mit dem Feuer, wirklich oppositionell gegen diese Regierung vorzugehen. Warum? Aus Sorge vor dem, was danach folgt. Aus Sorge davor, dass die Krisen vor allem von rechts genutzt werden können. Weil die politische Rechte ihre Hausaufgaben gemacht hat und handlungsfähiger ist. Aus Sorge, Geburtshelfer für die erste schwarz-blaue Regierung zu werden.

Aber woher soll die Stärke denn kommen, wenn man der Herausforderung ausweicht? Wie will man als politische Linke an Stärke zulegen, wenn man selbst in die Stabilisierung eines Status quo verwickelt ist, von dem Menschen zu Recht die Schnauze voll haben? Wen soll das überzeugen?

Ich habe keine abschließenden Antworten darauf, wie wir es genau anstellen sollen. Aber diese Aktion des rechten Flügels der CDU wirkt auf mich wie ein Weckruf, aus dem Trott zu kommen. Und nein, das ist keine Argumentation für die Projektion jeder Hoffnung auf eine rot-rot-grüne Regierung auf Bundesebene. Denn diese könnte, Stand jetzt, nur dadurch möglich gemacht werden, dass die Linkspartei zentrale Positionen räumt, um regierungsfähiger zu sein. Und in dem Punkt bin ich mir zumindest sicher: Das ist es nicht, was wir gerade brauchen.

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