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Britanniens Rückzug: Shakespeare an der Straße
Tony und Sadie verzogem sich vor EU-Austritt nach Frankreich. Sie erleben das Radsport-Spektakel als Theaterstück
Großbritannien war einst eine dominierende Kraft im Straßenradsport. Tour-de-France-Siege und Olympiamedaillen von Größen wie Bradley Wiggins, Chris Froome und Geraint Thomas waren die Norm. Mark Cavendish sammelte Sprintsiege in Rekordzahl. Doch gleichzeitig mit dem Brexit ist diese glanzvolle Ära verblasst. Am Sonntag gewann im französischen Châteauroux, das sich wegen Cavendishs Siegen selbstironisch »Cavendish City« nennt, der Belgier Tim Merlier vor dem Italiener Jonathan Milan. Der beste Brite, Jake Stewart (Israel Premier Tech), landete auf Platz 31. Geraint Thomas, Toursieger von 2018, ist immer noch dabei. Der 39-Jährige sagte »nd«, er genieße zwar seine Abschiedstour, hege aber nur Ambitionen, aus Fluchtgruppen um Tagessiege zu kämpfen.
Der Brexit hat jedoch nicht nur den Radsport geschwächt, sondern auch Lebenswege verändert. In Frankreich, zwischen »Cavendish City« und Ennezat, dem Startort der zehnten Etappe, haben Tony und Sadie einen alten Bauernhof ausgebaut und eine Gästewohnung eingerichtet. Beim gemeinsamen Abendessen im Garten wird schnell klar: Beide sind Brexit-Flüchtlinge.
Tom Mustroph, Radsportautor und Dopingexperte, begleitet diesen Sport weltweit seit mehr als 20 Jahren für »nd«.
»Zwei Tage vor dem offiziellen EU-Austritt Großbritanniens schlossen wir den Kaufvertrag ab. Wir erhielten rechtzeitig den Resident-Status in Frankreich und genießen es, uns frei in Europa bewegen zu können«, erzählte Tony. Früher Journalist beim »Guardian«, schreibt er nun über fairen Kakaoanbau. Er war sogar in Kolumbien – ein Land, in dem sich unsere Wege vielleicht kreuzten, als ich dort kolumbianische Radprofis wie Egan Bernal und Nairo Quintana besuchte. In Medellín waren wir beide, in den Straßen, wo der Radsport tief in der Kultur verwurzelt ist.
Und Sadie, Sängerin und Theaterregisseurin, war in den 90er Jahren in Berlin und trat im »Schokoladen« in der Ackerstraße auf – genau dort, wo ich später mit dem Orphtheater arbeitete. Sie war Mitbegründerin des Künstlerhauses Kule, wo ich heute als Dramaturg bei Grotest Maru tätig bin. Überraschend viel Heimat mitten in Frankreich! Sadie hat in Frankreich ein eigenes Theaterensemble gegründet. Sie entwickelt Shakespeare-Stücke und bringt sie auf Festivals in ganz Europa, von Avignon bis Edinburgh. Die Flucht aus Brexit-Großbritannien bezeichnen beide als ihr großes Glück. Brexit-Folgen spüren sie allerdings, wenn Sadie ihre Produktionen mit französischen Schauspieler*innen nach England bringt und sich um Visa und Zollformalitäten kümmern muss.
Auch mit der Tour de France hat Sadie Berührungspunkte: »Vor zwei Jahren führte die Tour hier vorbei. Wir sind in Kostüm und Maske an die Straße gestürmt und haben den Fahrern zugejubelt, als wären wir Teil eines Shakespeare-Dramas.« Damals gab es mit Adam Yates einen britischen Etappensieger, der Dritter der Gesamtwertung wurde, direkt dahinter folgte sein Zwillingsbruder Simon als Vierter.
Auch dieses Jahr sind die Yates-Zwillinge dabei, aber nur in Helferrollen. Britanniens Radsport ist ins zweite Glied gerückt – ein Abstieg, der den Brexit spiegelt, als hätte die Insel nicht nur die EU, sondern auch ihren sportlichen Glanz verloren.
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