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Nach blockierter Verfassungsrichterwahl: Schwarz-blau am Horizont

Die abgesetzte Abstimmung über neue Verfassungsrichter wirft ein Schlaglicht auf rechte Tendenzen in CDU und CSU

  • Ariel Tarnev
  • Lesedauer: 5 Min.
Die AfD treibt die Union vor sich her und träumt von einer Kanzlerschaft ihrer Chefin Alice Weidel, die vergangene Woche im Bundestag gegen Kanzler Merz austeilte.
Die AfD treibt die Union vor sich her und träumt von einer Kanzlerschaft ihrer Chefin Alice Weidel, die vergangene Woche im Bundestag gegen Kanzler Merz austeilte.

Friedrich Merz sieht derzeit keinen Anlass, den Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auszutauschen. Auf die Frage, ob sein Parteikollege Jens Spahn noch die richtige Person für den Posten sei, antwortete der Bundeskanzler am Wochenende im Sommerinterview der ARD: »Eindeutig ja.« Fraglich ist jedoch, wie lange das noch gilt. Denn der Chef einer Regierungsfraktion hat die Aufgabe, auch bei heiklen Fragen die sogenannte Fraktionsdisziplin sicherzustellen, also dazu beizutragen, parlamentarische Mehrheiten für die Koalition zu organisieren. Spahn war dies Ende vergangener Woche bei den Abstimmungen über die künftigen Richter am Bundesverfassungsgericht nicht gelungen. Die Wahl der von der SPD aufgestellten Juristin Frauke Brosius-Gersdorf und zweier weiterer Kandidaten war am Freitag kurzfristig von der Tagesordnung des Bundestags gestrichen worden.

Bei den mitregierenden Sozialdemokraten ist der Ärger darüber groß. In der Union versucht man, den Konflikt kleinzureden. Merz empfindet keinen Zeitdruck und äußerte sich optimistisch, dass die Wahlen zu einem späteren Zeitpunkt über die Bühne gehen können. Doch bis dahin gibt es bei den Konservativen Gesprächsbedarf: 50 bis 60 Abgeordnete von CDU und CSU hatten sich vor dem Hintergrund einer rechten Kampagne von AfD, sogenannten Lebensschützern und Vertretern der katholischen Kirche gegen die Wahl von Brosius-Gersdorf gestellt, da die Hochschullehrerin die Haltung vertritt, dass eine weitgehende Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs nicht gegen das Grundgesetz verstoßen würde.

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Selbst wenn nun eine für alle Seiten gesichtswahrende Lösung gefunden wird und Brosius-Gersdorf, wie von der SPD vorgeschlagen, vor der Unionsfraktion auftreten, dort Fragen beantworten und Zweifel an ihrer Person ausräumen würde, bleibt die Frage offen, ob sich solche Situationen wiederholen und den Fortbestand von Schwarz-Rot gefährden könnten. Linksfraktionschefin Heidi Reichinnek warnte als Konsequenz vor einer schwarz-blauen Koalition, »die am Horizont immer deutlicher zu erkennen« sei.

Das Absetzen der Richterwahl spielt der AfD in die Hände. In einem kürzlich bekannt gewordenen internen Strategiepapier der Partei heißt es sinngemäß, die Gesellschaft solle sich durch Kulturkämpfe polarisieren. Mit der Debatte um die Besetzung des höchsten deutschen Gerichts treibt sie genau diese Polarisierung voran. Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch behauptete im Bundestag, Brosius-Gersdorf habe gesagt, dass einem Kind zwei Minuten vor der Geburt keine Menschenwürde zukomme. Mit Unsinn wie diesem – in Wahrheit plädierte die Juristin dafür, dass Spätabtreibungen grundsätzlich rechtswidrig bleiben sollen – hatten zuvor bereits mehrere rechtskonservative Medien einen Kampagne gegen die Professorin losgetreten.

Die Vermutung, dass es in der Union nicht nur um die Frage geht, wie sie zu einer liberalen Juristin steht, liegt nahe. Vielmehr haben mehrere konservative Parlamentarier die Situation zum Anlass genommen zu demonstrieren, dass sie in zentralen Fragen eher zur AfD als zur SPD tendieren. Friedrich Merz trägt dafür eine große Mitverantwortung. Dass er sich zu Beginn dieses Jahres beim Votum im Bundestag über Zurückweisungen an der deutschen Grenze und verstärkte Abschiebungen auch auf die Stimmen der AfD stützte, war ein Tabubruch im Umgang mit der rechtsradikalen Partei.

Theoretisch hätten Union und AfD zusammen bereits eine Mehrheit im Bundestag. Dass es keine Gespräche über ein Zusammengehen auf Bundesebene gibt, liegt unter anderem an der Außenpolitik: Die AfD lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Allerdings gibt es in der Rechtsaußen-Partei mächtige Kräfte, vor allem aus den westdeutschen Landesverbänden, die darauf hinwirken, dass sie sich künftig nicht mehr so verständnisvoll wie bisher über den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Eroberungskrieg in der Ukraine äußert und sich stattdessen konsequent zur Nato bekennt. Sollten diese sich durchsetzen, wäre eine wichtige Hürde für eine Kooperation mit der Union genommen.

In einem Strategiepapier der AfD heißt es, die Gesellschaft solle sich durch Kulturkämpfe polarisieren. Mit der Debatte um die Besetzung des höchsten deutschen Gerichts treibt sie diese Polarisierung voran.

Zugleich will sich die AfD auf Kulturkämpfe – zum Beispiel um geschlechtergerechte Sprache, Inklusion und Gleichberechtigung – konzentrieren und imaginiert als Folge eine politische Landschaft der Zukunft, in der es nur noch die linksliberalen auf der einen und die rechtskonservativen Kräfte auf der anderen Seite gibt. Für die Union bliebe dann nur die AfD als möglicher Koalitionspartner. Dann, so die Hoffnung der radikalen Rechten, könnte ihre Vorsitzende Alice Weidel eines Tages sogar Bundeskanzlerin werden.

Diese Gedankenspiele sind durchaus ernstzunehmen. Bisher galt, dass heikle Koalitionen im Bund zunächst durch Testläufe in den Ländern vorbereitet werden. Im Jahr 2018 hatte die CDU auf einem Parteitag festgelegt, dass sie Koalitionen und »ähnliche Formen der Zusammenarbeit« mit der AfD und der Linken gleichermaßen ablehnt. Doch das ist nicht in Stein gemeißelt, wie jüngste Äußerungen aus der Union nahelegen.

Im kommenden Jahr muss von Erfolgen der AfD bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ausgegangen werden. Im April dieses Jahres hatte der CDU-Landes- und Fraktionschef Daniel Peters aus Mecklenburg-Vorpommern im Gespräch mit dem »Nordkurier« mitgeteilt, dass es in »Ostdeutschland auf Kommunalebene keine Brandmauer mehr mit der AfD« gebe. Vor dem Hintergrund der flächendeckenden Wahlerfolge der AfD im Osten müsse mit der »Ausgrenzung und Dämonisierung der Partei Schluss sein«. Peters dürfte damit vielen Konservativen aus der Seele gesprochen haben, die vergangene Woche die Richterwahl im Bundestag sabotierten. Und die AfD weiß, dass ihr solche Aussagen helfen, um ihrem schwarz-blauen Ziel näherzukommen.

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