Neues Kapitel für die Türkei?

Nach der Selbstauflösung der PKK sind die Hoffnungen auf Frieden groß – so wie auch die Skepsis

  • Jakob Helfrich, Suleimanijeh
  • Lesedauer: 8 Min.
Eine PKK-Anhängerin hält eine Flagge während einer Kundgebung, bei der eine Fernsehansprache des inhaftierten Gründers der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalan gezeigt wird.
Eine PKK-Anhängerin hält eine Flagge während einer Kundgebung, bei der eine Fernsehansprache des inhaftierten Gründers der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalan gezeigt wird.

Das Büro ist stickig, bei 40 Grad ist die Klimaanlage ausgefallen. »Das müssen wir jetzt alles runterschlucken«, sagt Soma Khalid mit einem Blick auf die lebensgroßen Porträts ihrer vor nicht einmal einem Jahr getöteten Kolleginnen. Eine Drohne der türkischen Armee hatte die beiden Journalistinnen Gülistan Tara und Hêro Bahadîn auf dem Rückweg von einem Dreh im August 2024 bombardiert. In Somas Stimme vernimmt man den ehrlichen Wunsch, dass der Friedensprozess zu einem Erfolg führen wird.

Als Vertreterin einer kleinen Fernsehproduktionsfirma in Suleimanijeh konnte Soma als eine von etwa 400 Personen am Freitag an der Zeremonie der Waffenniederlegung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) teilnehmen. 30 Kämpferinnen und Kämpfer, jeweils 15 an der Zahl, hatten eine Autostunde nordwestlich der Millionenstadt Suleimanijeh in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak symbolisch ihre Waffen zu einem Haufen aufgetürmt und in Brand gesetzt.

Nicht nur rund 400 Gäste aus der Türkei, dem Irak und der kurdischen Autonomieregion, aus Zivilgesellschaft und Politik hatten sich in der engen Schlucht versammelt, an deren Ende die Dschasana-Höhle versteckt liegt. Die Schlucht war weitgehend von schwer bewaffneten Sicherheitskräften abgeriegelt. Einzig und allein einem Konvoi weißer und schwarzer SUVs, teilweise ohne Nummernschilder, wurde erlaubt, die sich windende Straße zur Höhle hochzuarbeiten, die sonst als Touristenattraktion ausgeschildert ist.

Eine Angelegenheit von 20 Minuten

Bilder der Zeremonie kommen erst an die Öffentlichkeit, nachdem sie schon vorbei ist. Den Anwesenden ist das Benutzen von Handys streng verboten. Auch Soma Khalid durfte nicht filmen. Allein einige Medien, die der türkischen Regierung, der PKK oder der in der Region Suleimanijeh regierenden Patriotischen Union Kurdistan (PUK) nahestehen, dürfen Bilder und Videos machen.

Die Zeremonie selbst ist eine Angelegenheit von vielleicht 20 Minuten: Die Gruppe Kämpfer*innen kommt die Treppe herunter, die zur Höhle führt, erst die Frauen, dann die Männer, und platziert sich auf einer Bühne unter dem Bild des inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan. Die Frau Mitte vierzig, die die Gruppe anführt, Besê Hozat, verliest eine Erklärung auf Türkisch; der Mann neben ihr, Bezhat Çarcel, wiederholt auf Kurdisch und in militärischem Ton.

Danach verlassen die Kämpferinnen und Kämpfer – diesmal zuerst die Männer – die Bühne und platzieren ihre Waffen einzeln in einer Feuerschale: 26 Kalaschnikows, ein Granatwerfer, ein Snipergewehr, ein schweres Maschinengewehr sowie ein Sturmgewehr US-amerikanischer Bauart stapeln sich nach und nach in der Schale. Die Läufe nach oben gerichtet, gepolstert nur durch die Munitionsgürtel, die die Kämpfer sorgfältig abgelegt haben, bevor sie zur Seite treten, als die Frau und der Mann gemeinsam den Haufen, der an ein traditionelles Newrozfeuer zum kurdischen Neujahrfest erinnert, in Brand setzen – mit Hilfe eines Kanisters Benzin.

»Terrorfreie Türkei« versus »Frieden und demokratische Gesellschaft«

Danach verlassen die 30 Personen, die mit ihren an traditionelle kurdische Kleidung erinnernden Tarnanzügen unter den Anwesenden hervorstechen, die Szenerie in Richtung der Schlucht, bevor sie wieder in der Höhle verschwinden.

Die Verbrennungszeremonie ist der bisherige Höhepunkt eines Prozesses, der im Oktober letzten Jahres begonnen hat und von der türkischen Regierung unter dem Stichwort »terrorfreie Türkei« und vonseiten der kurdischen Bewegung unter dem Slogan »Frieden und demokratische Gesellschaft« geführt wird. Ziel, da sind sich beide Seiten einig, ist die Beendigung der militärischen Konfrontation, die seit über 40 Jahren andauert und sich in den letzten Jahren zu einer Pattsituation entwickelt hat.

Weder konnte der türkische Staat nach dem letzten gescheiterten Friedensprozess die PKK »in die Knie zwingen«, wie er es offen formuliert hatte, noch kam die PKK mit dem bewaffneten Kampf ihren politischen Zielen näher. Stattdessen bekämpfte man sich in den letzten zehn Jahren vor allem in den türkisch-irakischen Bergregionen, ohne dass sich dabei ein definitiver Gewinner hätte hervortun können.

Weder konnte der türkische Staat die PKK »in die Knie zwingen«, wie er es formuliert hatte, noch kam die PKK mit dem bewaffneten Kampf ihren politischen Zielen näher.

Stattdessen jetzt also nach Aufruf von Öcalan im Februar, einseitigem Waffenstillstand im März, PKK-Kongress und Auflösungserklärung im Mai eine Zeremonie, mit der die PKK Feind wie Freund unmissverständlich klarmachen will: Wir sind bereit, willens und in der Lage, den bewaffneten Kampf einzustellen und als gesellschaftliche Bewegung neue Wege einzuschlagen.

Kaum beachtet, veröffentlichte die PKK so am Abend nach der Zeremonie die Namen und Daten der Kämpferinnen und Kämpfer, die an der Zeremonie teilnahmen. Zwischen 21 und 60 Jahre alt, teilweise seit einem, teilweise seit weit über 30 Jahren Teil der Partei, sensible Daten, die die PKK bislang nur dann von ihren Mitgliedern veröffentlichte, wenn diese verstarben oder getötet wurden.

Wenn auch materiell ein kleiner Schritt, öffnet er in dem Konflikt die Tür für grundlegende Veränderungen, auf die viele seit Jahren gewartet haben. Und während viele wie Soma den Schritt begrüßen und auf Erfolg hoffen, bleibt doch die Skepsis, wie ernst es die Türkei meint. Und ob auch wirklich alle Akteure innerhalb der Türkei mitziehen oder nicht doch, wie so oft in der türkischen Geschichte, mehr oder weniger mächtige Cliquen und Kreise in Militär und Geheimdienst vielleicht eigene Pläne verfolgen und den Prozess sabotieren könnten.

Türkische Gesellschaft braucht Mentalitätswandel

Fakhir lebt seit über 14 Jahren in Suleimanijeh. Nach Jahren der Repression wegen seiner legalen politischen Arbeit in kurdischen Parteien in der kurdischen Region Hakkari floh er 2011 nach Folterungen aus der Türkei und ging ins Exil. In Suleimanijeh hat sich so in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine umfassende Exil-Community entwickelt, die aber selbst hier nicht vor dem langen Arm der Türkei sicher ist. Immer wieder kommt es zu Morden an politischen Aktivisten auf den kurdischen Gebieten in der Türkei. Zu Festnahmen kommt es fast nie, oft bekennt sich später der berüchtigte türkische Geheimdienst MIT zu den Angriffen und vermeldet, »Terroristen neutralisiert« zu haben.

Fakhir will auf die Frage nach der Perspektive einer Rückkehr in die Türkei im Zuge des Friedensprozesses noch nicht antworten. Zuerst müsse es dort nicht nur ein Eingeständnis von Präsident Recep Tayyip Erdoğan geben, dass Vorgängerregierungen vielleicht etwas falsch gemacht haben. Es brauche einen Mentalitätswandel in der Türkei, der solches Handeln in der Zukunft unmöglich macht. Dieser sei aber nicht zu erkennen, vielmehr beinhalte das Narrativ der »terrorfreien Türkei«, das von den Regierungsparteien AKP und MHP vorangetrieben werde, immer noch, dass alle Kurd*innen die für ihre Rechte gekämpft haben, Terroristen gewesen seien.

Und tatsächlich bietet Erdoğans als »historische Rede« angekündigte Erklärung vom Samstag wenig, was als Mentalitätswandel verstanden werden könnte. Vielmehr scheint es, als wolle man jetzt auch offiziell der pro-kurdischen Dem-Partei die Hand auszustrecken. Von einer Allianz aus AKP, MHP und Dem spricht Erdoğan da, die den Weg jetzt weitergehen werde. Eine Darstellung, die den Rest der Opposition ausschließt und der die Dem-Partei selbst widerspricht, ohne direkt die Konfrontation mit Erdoğan zu suchen.

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Zentrale Rolle des türkischen Parlaments

Der kurdische Politikveteran Ahmet Türk, der wie viele Bürgermeister von Dem und CHP in den letzten Monaten abgesetzt wurde, erklärte noch am Samstag: »Solange Zwangsverwalter in CHP-Stadtverwaltungen eingesetzt werden, werde ich selbst auch nicht akzeptieren, wieder meine Arbeit antreten zu können. Wenn, dann sollen alle Zwangsverwaltungen beendet werden.«

Für die kommende Zeit dürfte vor allem das türkische Parlament zum zentralen Faktor für den Friedensprozess werden. Auf die von Erdoğan angekündigte parlamentarische Kommission wartet viel Arbeit. Nicht nur in der Frage der Entwaffnung der PKK, wie es Erdoğan in seiner Rede betonte, sondern gerade dabei, dass auch der türkische Staat Schritte auf die kurdische Bewegung zugehen muss.

Die Liste der unbeantworteten Fragen ist lang: Zwangsverwaltungen, Terrorgesetz, die Situation von kranken und langjährigen Gefangenen, die Haftbedingungen Öcalans, Amnestie für PKK-Kämpfer mit türkischer Staatsbürgerschaft, Stärkung der lokalen Verwaltungen und Unterricht in der Muttersprache, um nur einige zu nennen, was in den letzten Tagen von verschiedenen Seiten vorgebracht wurden.

Waffenniederlegung ist nur der Beginn

Dieser Prozess wird wohl kaum ohne Probleme oder Widerworte vonstattengehen, selbst wenn AKP und MHP dazu bereit sind. Verschiedene kleinere nationalistische Parteien werfen der Regierung schon jetzt vor, mit Terroristen zu verhandeln und so Verrat zu begehen.

Aber auch aus der CHP, deren Parteispitze eigentlich Unterstützung angekündigt hatte, kommen Stimmen gegen die versöhnlichen Zwischentöne Erdoğans. Der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, sprach sich offen gegen das von Erdoğan angedeutete Bündnis aus Türken, Arabern und Kurden aus.

Mit der Zeremonie zur Waffenniederlegung ist der Friedensprozess in der Türkei bei Weitem noch nicht vorbei, wie es vielleicht einige gedacht haben. Er fängt gerade erst an.

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