Verzweifelte Suche nach Lebensmitteln

Die Hilfslieferungen, die im Gazastreifen ankommen, werden geplündert. Ein Augenzeugenbericht

  • Rame Abu Reda
  • Lesedauer: 5 Min.
»Heute hat unsere Tochter Carmen den Tisch gedeckt mit Köstlichkeiten und wir werden essen!« Akram Sourani über das Werk der Elfjährigen, die meistens Dinge zeichnet, von denen sie träumt. Gaza 2025
»Heute hat unsere Tochter Carmen den Tisch gedeckt mit Köstlichkeiten und wir werden essen!« Akram Sourani über das Werk der Elfjährigen, die meistens Dinge zeichnet, von denen sie träumt. Gaza 2025

Rame Abu Reda (49) ist Architekt und lebt mit seiner sechsköpfigen Familie im Gazastreifen. Sein Zuhause war das Dorf Khuza’a in einer landwirtschaftlichen Gegend an der östlichen Grenze zu Israel. Khuza’a wurde während der 50-tägigen militärischen Operation »Protective Edge« 2014 von der israelischen Armee fast ganz zerstört, Einwohner als menschliche Schutzschilde missbraucht.

Nach Ausbruch des Krieges 2023 musste Reda sein inzwischen selbst wieder aufgebautes Haus verlassen, im Mai 2025 wurde das gänzlich leer stehende Khuza’a erneut dem Erdboden gleichgemacht. Zwölf Ortswechsel hat die Familie hinter sich. Viermal konnte sie bei Verwandten unterkommen, die restlichen Male in Zelten in Flüchtlingscamps. »Meine Tochter verzweifelt, weil sie ihren Traum zu studieren zerbrechen sieht«, sagt Rame. »Und meine Frau verwandelte sich von einer Mutter, die unserem Zuhause Süße verlieh, in eine Frau, die ein Zelt zusammenhält, nur im Stillen weint – und jeden Tag aus den Überbleibseln der Schuttberge etwas zusammenschraubt, um Ruhe im Chaos, Wärme in der Kälte zu kreieren – und Sicherheit, in einer Zeit, die längst vergessen hat, was dieses Wort bedeutet.«

Gekidnappte Hilfe
Rafah, 13. Juni 2025

Umgeben von sandigem, wüsten Brachland, das nicht einmal Esel zu durchqueren wagen, stehen die neuen amerikanischen Hilfsgüterzentren – unter der Kontrolle der israelischen Armee; vier Kilometer entfernt von der nächsten bewohnten Straße. Die Straßen dorthin, von den Ketten der Panzer in Grund und Boden gestampft, sind unbefahrbar, es gibt keine Transportmöglichkeiten. Unter einer sengenden Sonne herrschen Angst, Mord und Terror. Ein erbarmungsloses Niemandsland.

Mehr als 200 000 Menschen belagern durchgehend die »Zentren«: Hungrige und Verzweifelte, zwischen Dieben, Plünderern, Bewaffneten und Schlägern, die im Chaos des Überlebens auf die Essenspakete zusteuern, ohne organisiert zu sein oder zur Rechenschaft gezogen zu werden. Den Schwachen, darunter Frauen, Alte und Kranke, bleibt nichts anderes übrig, als aus der Ferne zuzusehen. Wie kann jemand inmitten dieses Gedränges und der Panik eine 35 Kilo schwere Kiste tragen? Wer auch immer so weit kommt, wird das Erbeutete später auf dem Markt verkaufen, zu Preisen, die ein leerer Magen nicht fassen kann. In diesem Szenario kann Hilfe nicht verteilt werden, sie wird gestohlen, gekidnappt, missbraucht. Wie lange werden wir noch hungern?

Überleben ohne Mehl
Khan Yunis, 16. Juni 2025

Die Hilfslastwagen trafen wie üblich ein, beladen mit Mehlsäcken, bereit, an derselben Stelle geplündert zu werden. Bevor sie ihr Ziel erreichten, machte die Nachricht die Runde. Ein riesiger Menschenschwarm versammelte sich. Die Lastwagen wurden angegriffen und ihre Ladung geraubt – kein ungewöhnlicher Anblick mehr, aber mit jedem Mal grausamer.

Ich überlegte dennoch, näher heranzugehen. »Vielleicht finde ich einen Sack Mehl günstiger«, dachte ich mir. »200 Schekel (48 Euro) sind besser als 1000 (240 Euro)!« Ich brach auf vom Flüchtlingscamp al-Mawasi, auf meinem Fahrrad. Die Straße war voller ausgemergelter Körper und hungriger Augen. Hunderte, ja Tausende marschierten in eine Richtung; nur Schritte, Keuchen und Stöhnen waren zu hören.

Je näher ich Scheich Nasser kam, desto häufiger sah ich Menschen mit Mehlsäcken auf den Schultern zurückkehren. Sie waren blass und staubig. Ich fand niemanden, der etwas verkaufte – jeder trug das Erbeutete für sich, unermessliche Schätze, abgesehen von ein paar Karren und Wagen von Händlern, Dieben und Söldnern.

Ich fragte: »Verkauft jemand Mehl?« Die Antworten kamen scharf, wütend und manchmal fast vulgär. Die Lage war angespannt, aber schließlich fand ich, wonach ich suchte: einen bewaffneten Mann, der einen Sack Mehl für 200 Schekel verkaufte. Ich gab ihm das Geld; er deutete auf eine nahe Gasse und gab seinem Partner ein Zeichen, einen Sack zu holen. Ich stand da und wartete.

Augenblicke später die Explosion: Eine Artilleriegranate schlug in unserer Nähe ein, alles bebte und ich stürzte vom Fahrrad. Menschen fielen auf mich oder versuchten zu fliehen. Ich realisierte erst, was passiert war, als ich am Boden lag. Meine Füße schmerzten, Staub lag in der Luft, Schreie, Menschen rannten in alle Richtungen.

Ich stand langsam auf, sah mich nach dem Mann um, der mein Geld genommen hatte. Ich konnte ihn nicht finden.

Ein Quadcopter hatte sich genähert, stand über uns in der Luft und begann, Kugeln auf den Ort niederprasseln zu lassen. Wir hatten keine andere Wahl als zu fliehen. Ich versteckte mich in einer Gasse, würgte vor Staub und Angst, spürte meine Wunden und verfluchte den Krieg.

Eine weitere halbe Stunde verging. Relative Ruhe kehrte ein, also ging ich zurück, um den Mann zu suchen, vergeblich. Ich fand ihn nicht, ich fand das Mehl nicht, und ich sah mein Geld nicht wieder. Ich kehrte mit leeren Händen nach Hause zurück, mit nichts als einem wunden Fuß, Kopfschmerzen und schweren Herzens.

Die Grausamkeit, Barbarei und Brutalität, die ich aus nächster Nähe miterlebte, hätte ich nie für möglich gehalten. Der Krieg hat das Schlimmste aus uns herausgepresst.

Die Autorin Miriam Sachs ist seit einem Aufenthalt in Gaza 2015 in Kontakt mit Rame Abu Reda und übersetzte seine Schilderungen ins Deutsche.

Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Dank der Unterstützung unserer Community können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen

Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -