- Politik
- 100 Jahre Franz Fanon
Antikolonialer Revolutionär
Am 20. Juli wäre der Philosoph und Rassismustheoretiker Frantz Fanon hundert Jahre alt geworden. Interview mit dem Fanon-Biografen Peter Hudis
Das »nd« ist Mitorganisator eines internationalen Symposiums über den schwarzen Philosophen und Antikolonialismustheoretiker Frantz Fanon, der 1925 auf der Karibikinsel Martinique geboren wurde und sich 1956 der algerischen Befreiungsbewegung FLN anschloss. Konferenzteilnehmer Peter Hudis über die Aktualität Fanons, der bereits 1961 an Leukämie starb, aber ein umfangreiches theoretisches Werk hinterließ.
Frantz Fanon wurde nur 36 Jahre alt. In dieser kurzen Zeit hat er als antifaschistischer Freiwilliger in Europa gegen Nazi-Deutschland gekämpft, Theaterstücke geschrieben, Medizin studiert, als reformorientierter Psychiater in Algerien gearbeitet, philosophische Bücher verfasst und im Untergrund für die Befreiungsbewegung FLN gearbeitet. Wie müssen wir uns den Menschen Fanon vorstellen?
Als jemanden, der keine Form sozialer Ungerechtigkeit ertrug. Fanon war siebzehn, als er die Karibikinsel Martinique verließ, um sich am Krieg gegen Nazi-Deutschland zu beteiligen. Später hat er diese Entscheidung zwar bereut, weil die Alliierten kaum weniger rassistisch waren als die Faschisten. Aber er sah die Notwendigkeit, zu handeln. Zugleich war Fanon ein Realist. Er erkannte genau, was für eine Tragödie Rassismus und Kolonialismus bedeuten, welche psychologischen Folgen sie haben. Und er machte sich auch keine Illusionen darüber, wie schwer es sein würde, die europäische Herrschaft zu brechen. Eine dritte wichtige Eigenschaft Fanons war seine Sensibilität. Er sah in anderen, selbst in Gegnern, immer auch die humane Seite. Und viertens schließlich war er extrem diszipliniert. Sie haben ja schon aufgezählt, was er in seinem kurzen Leben alles gemacht hat. Als Psychiater hatte er 600 Patienten, arbeitete 50 bis 60 Stunden die Woche und nahm sich trotzdem Zeit, um zu schreiben.
Peter Hudis (Jahrgang 1955) ist Professor für Philosophie am Oakton Community College und Autor der Biografie »Frantz Fanon: Philosopher of the Barricades« (Pluto Press 2015). Zudem ist er Herausgeber der englischen Übersetzung der Rosa-Luxemburg-Werke.
Sowohl in den Wissenschaften als auch in der politischen Linken ist schwarze radikale Theorie lange marginalisiert worden. W.E.B. Du Bois‘ Klassiker »Black Reconstruction« beispielsweise ist bis heute nicht ins Deutsche übersetzt. Wie haben Sie in diesem Kontext zu Fanon gefunden?
Ich bin mit der Bürgerrechtsbewegung aufgewachsen. 1964 ermordete der Ku-Klux-Clan die Aktivisten James Chaney, Andrew Goodman und Michael Schwerner. Einer der drei war der Bruder meines Freundes – das hat mich geprägt. Das zweite einschneidende Erlebnis war bei einem Kinobesuch mit meinen Eltern, ich war elf Jahre alt. Meine Familie ist jüdisch und vor uns saß ein älteres jüdisches Ehepaar, das sehr rassistisch über schwarze Menschen sprach. Mich hat das schockiert, und ich habe mich gefragt: Wie kann es sein, dass sie den Holocaust überlebt haben und trotzdem dieselben Stereotypen über Schwarze verbreiten, wie sie immer über Juden erzählt werden? Ich begann mich für Rassismus zu interessieren und bin schnell auf Fanon gestoßen. Das erste Buch, das ich von ihm las, war »Schwarze Haut, weiße Masken«. Die Schönheit von Fanons Schreiben beeindruckte mich. Später habe ich mich intensiver für sozialistisch-humanistische Traditionen interessiert, die Alternativen im Sozialismus aufzeigten, und Fanon stand – direkt oder indirekt – sehr für diese Linie.
Welche Erkenntnisse haben Sie damals bei Ihrer Auseinandersetzung mit Fanon gewonnen?
Sehr wichtig für mich war, wie Fanon die sozioökonomischen und politischen Dimensionen der Rassifizierung mit den psychologischen Dimensionen des Rassismus verschränkt – also wie Rassismus von Tätern und Opfern internalisiert wird. Eine zweite wichtige Erkenntnis war, dass für Fanon jede Befreiung, die auf den Staat und die Eigentumsverhältnisse beschränkt bleibt und die persönlichen Beziehungen der Menschen unverändert lässt, nicht zum Kern des Problems vordringt. Drittens schließlich ist Fanon bei seinen Schriften immer von konkreten Erfahrungen ausgegangen. Er wollte keine großen Theorien verfassen, hat aber trotzdem immer eine sehr universalistische Perspektive eingenommen. Zu Beginn von »Schwarze Haut, weiße Maske« gibt es etwa diesen Satz: »Der Schwarze sollte nicht mehr geliebt werden als der Tscheche. Was getan werden muss, ist, den Menschen zu befreien.« Bei Fanon geht es um universelle Emanzipation – die Form der Unterdrückung ist für ihn sekundär.
Es gibt eine Kritik, die besagt, Fanon sei von den Postkolonialen Studien unmaterialistisch gelesen worden. Man habe sich darauf konzentriert, was er zu Diskurs und rassistischer Subjektivierung schreibt. Fanons Kritik kolonialer und imperialistischer Beziehungen habe man hingegen ausgeblendet. Ein berechtigter Einwand?
Auf jeden Fall – man muss allerdings auch den Kontext sehen. Die erste Lektüre Fanons in den 1960er und 1970er Jahren war geprägt von seinem letzten Buch »Die Verdammten dieser Erde« und vor allem von Fanons Auseinandersetzung mit Gewalt. Marxistisch-leninistische, anarchistische, schwarze radikale Gruppen, die Black Panther Party – sie alle interessierten sich vor allem für diese Frage. Nach der Niederlage dieser Strömungen wurden die Verhältnisse in den USA ziemlich repressiv, gleichzeitig landeten einige Leute im Wissenschaftsbetrieb. Die postkoloniale Theorie war stark von diesem Klima der Niederlage und dem Scheitern des sozialistischen Projekts geprägt. Fanons Entfremdungstheorie, seine sozialistischen Positionen, selbst die Kritik der kolonialen und rassistischen Gewalt spielten in der postkolonialen Theorie keine große Rolle mehr. Emblematisch für diese Interpretation steht Homi Bhabha, der ja auch das Vorwort der bekanntesten englischsprachigen Fanon-Ausgabe geschrieben hat. Bhabha behauptete, dass man den Begriff »Kapitalismus« nicht mehr verwenden könne – was aus heutiger Sicht ziemlich absurd wirkt.
Der Literaturwissenschaftler Bhabha beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wie der Kolonisierte den Kolonialherren nachahmt und warum Kultur immer hybrid ist.
Die postmoderne Interpretation liest Fanon als eine Art »Poet des Terrors«: als einen Autor, der die Unmöglichkeit gegenseitiger Anerkennung beschreibt. Dabei war Fanon alles andere als ein Pessimist, was die Möglichkeiten des Menschen angeht. In seiner Dissertation diskutierte Fanon den Psychoanalytiker Jacques Lacan und widersprach dessen These, der Wahnsinn sei integraler Bestandteil des menschlichen Wesens. Für Fanon ist Entfremdung niemals völlig erfolgreich, und deshalb gibt es für ihn auch immer die Möglichkeit, sie zu überwinden. Die postmoderne Theorie hat diesen politischen Fanon unsichtbar gemacht, und ich würde sagen, dass sie das vorsätzlich getan hat. Postkoloniale Theoretiker haben Fanon kreativ verwendet, um Kolonialismus und Imperialismus zu kritisieren. Übergangen haben sie hingegen die Gegenprojekte, die Fanon aufzeigt. Das stimmt übrigens auch für den Afropessimismus…
Eine Strömung, die den antischwarzen Rassismus für die zentrale gesellschaftliche Struktur der Gegenwart hält. Aus afropessimistischer Sicht ist weiße Solidarität mit Schwarzen unmöglich.
Auch der Afropessimismus geht aus einer Niederlage hervor – allerdings nicht der von 1968, sondern aus der gescheiterten Transformation Südafrikas nach dem Apartheid-Regime 1994. Diese postmodernen Interpretationen Fanons haben in den USA zuletzt allerdings stark an Einfluss verloren. Die Fanon-Debatte heute bezieht sich wieder stärker auf seinen Humanismus und seine Überlegungen zu sozialer Transformation – was viel mit der Black-Lives-Matter-Bewegung zu tun hat, in der man Fanon zu lesen begann, um den eigenen Aktivismus zu reflektieren.
Am 22./23. Juli findet in Berlin (Münzenbergsaal des FMP1) das internationale Symposium »Fanon heute – Kämpfe der Gegenwart und theoretische Perspektiven« statt.
- 22. Juli
9.30 Uhr: Einführung
10–12: Marxismus/Antikolonialismus
Peter Hudis (USA) & Annie Olaloku-Teriba (GB)
13–15 Uhr: Fanons Theorie im internationalen Kontext
Felix Valdés García (Kuba) & Lauan Al-Khazai (D)
15.30–17.30 Uhr: Grenzen und Migrationskämpfe
Hourya Bentouhami (F) & Robin Celikates (D) - 23. Juli
9.30–12 Uhr: Neokolonialismus und (Gegen-)Gewalt
Aisha P. Kadiri (F), Kevin Ochieng Okoth (GB) und Raul Zelik (D)
13–15 Uhr: Antifaschistische Zukunft
Nigel Gibson (USA) und
Vanessa E. Thompson (Kanada)Organisiert von: Vanessa E. Thompson (Queen’s University), Robin Celikates (FU Berlin) und »nd«. Unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Sie sagen, dass Fanon entpolitisiert gelesen wurde. Aber mittlerweile gibt es auch eine entgegengesetzte Interpretation: Es heißt, er sei ein Apologet der Gewalt gewesen. Tatsächlich hält er revolutionäre Gewalt für unverzichtbar, um mit der strukturellen Gewalt der Herrschenden zu brechen.
Man sollte zunächst festhalten, dass Fanon Gewalt nie glorifiziert hat. Sie ist für ihn kein Zweck, sondern ein Mittel, das in Anbetracht der kolonialen Gewalt unvermeidbar ist. Gleichzeitig wusste er aber auch, dass viele afrikanische Länder ihre Unabhängigkeit ohne bewaffneten Kampf erreicht hatten. Der Ghanaer Kwame Nkrumah, dem Fanon sehr nahestand, war ursprünglich Pazifist und orientierte sich an Gandhi. Ghana und Guinea wurden gewaltlos unabhängig. Fanon war also keineswegs der Ansicht, dass Gewalt immer notwendig ist. Aber im Fall Algeriens war die Lage anders, und darüber hinaus sah Fanon auch die Gefahr, dass unabhängig gewordene Länder in neue, neokoloniale Abhängigkeit geraten würden, wenn sie nicht radikal mit den Kolonialmächten brachen. Deshalb reiste Fanon ab 1959 als Botschafter der algerischen Revolution durch die Staaten der Subsahara, um auf die Gründung einer afrikanischen Legion, eines gemeinsamen militärischen Verbandes zu drängen, mit dem sich die unabhängig gewordenen Staaten gegenseitig unterstützen könnten. Und dann kamen die Ereignisse im Kongo.
Heute wird oft vergessen, dass Fanon den Begriff »Neokolonialismus« erstmals in Bezug auf die Kommunistische Partei Frankreichs verwendete.
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Das Land wurde unabhängig, aber der Revolutionsführer Patrice Lumumba wurde auf Betreiben der USA und Belgiens wenige Monate später ermordet.
Das war eine traumatische Erfahrung. Lumumba wurde im Juni 1960 kongolesischer Staatschef, nur zwei Tage später spaltete sich die Region Katanga auf Drängen der belgischen Kolonialmacht ab. Lumumba wurde von der eigenen Armee sabotiert, er versuchte militärische Unterstützung von Ghana zu bekommen, die aber nie eintraf, bat dann die Uno um Unterstützung, die tatsächlich Truppen entsandte, aber sich selbst am Mordkomplott gegen Lumumba beteiligte.
Übrigens unter Führung des schwedischen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld, der der Sozialdemokratie seines Landes nahestand. So fest eingebunden war die europäische Linke in die neokoloniale und imperialistische Politik.
Fanon sah das alles und war der Überzeugung, dass die militärische Schwäche der afrikanischen Bewegungen für die Entwicklung verantwortlich ist. Dabei kam dem Kongo, wie Lumumba gesagt hatte, eine strategische Rolle zu: Wenn sich ein antiimperialistischer Kongo etabliert hätte, wäre der Funke ins südliche Afrika übergesprungen. So sahen es auch die kapitalistischen Staaten, die Lumumba ja genau deshalb stürzen wollten. Vor diesem Hintergrund ist Gewalt für Fanon eine politische und eben keine ontologische oder metaphysische Frage. Hannah Arendts Kritik an Fanon geht in diesem Punkt an der Sache völlig vorbei. Für Fanon ging es um ein konkretes Problem: Die revolutionäre Gewalt sollte Entwicklungen wie im Kongo verhindern.
Aber es stimmt schon auch, dass Fanon der Gewalt der Unterdrückten eine heilende Wirkung zuschreibt. An einer Stelle in »Die Verdammten dieser Erde« heißt es, der revolutionäre Krieg »bewirkt die fortschreitende Emanzipation des Kämpfers und vernichtet Schritt für Schritt die koloniale Finsternis.«
Man muss den Kontext sehen, in dem Fanon diese Passage schreibt. 1960 ist er bereits schwer an Leukämie erkrankt, er weiß, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat. Er diktiert den Text und versucht, Unterstützung für seine politische Position zu mobilisieren. Und tatsächlich ist er davon überzeugt, dass revolutionäre Gewalt für die Unterdrückten ein Mittel sein kann, um den kolonialen Minderwertigkeitskomplex zu überwinden. Als Psychiater ist ihm zugleich aber auch klar, welche Effekte die Gewalt hat – und zwar nicht nur bei den Opfern imperialistischer Gewalt, sondern auch bei den Tätern sowie bei denjenigen, die ihrerseits Gewalt gegen die Kolonialherren ausüben. Deshalb war Fanon auch nicht besonders glücklich über Jean-Paul Sartres Vorwort in »Die Verdammten dieser Erde«, das die Gewalt viel undifferenzierter befürwortet, als es Fanon selbst tut.
Diese Passagen wurden nach dem 7. Oktober 2023 wieder ausgegraben. Die einen haben Fanon vorgeworfen, er sei für die Gewalt an Zivilist*innen verantwortlich, andere haben mit Fanon das Vorgehen der Hamas zu rechtfertigen versucht.
Ich wäre vorsichtig mit Aussagen darüber, was Fanon zu aktuellen Konflikten zu sagen hätte. Er war ein säkularer Sozialist, der den islamischen Strömungen in der algerischen Befreiungsbewegung kritisch gegenüberstand und mit Abane Ramdane und dessen Vorstellungen eines demokratisch-sozialistischen Algerien sympathisierte. Gleichzeitig glaube ich aber auch nicht, dass Fanon die Gewalt des 7. Oktober 2023 ähnlich verurteilt hätte wie das israelische Vorgehen der letzten zwei Jahre. Diese beiden Formen der Gewalt kann man nicht gleichsetzen. Das Vorgehen Israels ist meiner Ansicht nach tausendmal gewalttätiger und blutiger als das, was Hamas getan hat. Vermutlich hätte Fanon mit den Zielen der Hamas nichts anfangen können, aber das Recht auf Widerstand gegen Israel verteidigt.
Heute erscheint die Dekolonisierung als gescheitertes Projekt. Der kapitalistische Weltmarkt ist an die Stelle der Kolonialreiche getreten und beutet in vieler Hinsicht noch effizienter aus als diese. Fanon hat das Problem neokolonialer Beziehungen vorausgesehen. Er war zwar für die Unabhängigkeit, aber skeptisch gegenüber einem Nationalismus, der einheimischen Eliten das Feld bereitet. Hätte man das Scheitern der Dekolonisierung verhindern können?
Dasselbe könnte man über den Sozialismus sagen: Er wurde vom kapitalistischen Weltmarkt ersetzt. Trotzdem würden viele vermutlich widersprechen, wenn man behauptete, der Sozialismus als solcher sei gescheitert. Fanon sah die Probleme der Dekolonisierung. Ihm war bewusst, dass der Tribalismus erstarken oder die unabhängig gewordenen Länder im Blockkonflikt zerrieben werden könnten. Aber er hielt es trotzdem für möglich, von der nationalen Emanzipation zur sozialen Transformation überzugehen. Er wollte eine Universalisierung des Humanismus, mit dem neue Formen der Unterdrückung verhindern werden sollten. In den letzten Jahren seines Lebens und vor allem in »Die Verdammten dieser Erde« warnte er davor, die Unabhängigkeitsprozesse den einheimischen Bourgeoisien zu überlassen. Auf die Frage, wie die soziale Transformation in den Vordergrund gerückt werden kann, lieferte er keine abschließende Antwort. Aber er betonte das strukturelle Problem. Selbst wenn sich die panafrikanische Perspektive durchgesetzt hätte, wären die ökonomische Rückständigkeit und die Verarmung dieser Länder durch den Kolonialismus nicht beseitigt gewesen. Ohne die Unterstützung der Arbeiterklasse und nationaler Minderheiten, vor allem der Afroamerikaner, in den Metropolen wäre es kaum denkbar gewesen, von der nationalen Befreiung zur sozialen Transformation überzugehen. Und diese Solidarität gab es Anfang der 1960er Jahre kaum. In Frankreich beispielsweise verteidigten sowohl die Kommunisten als auch die sozialistische Partei den Kolonialanspruch auf Algerien.
Der spätere sozialistische Präsident François Mitterrand entsandte 1954 als Innenminister Spezialeinheiten zur Bekämpfung des algerischen Aufstands und autorisierte zahlreiche Hinrichtungen.
Heute wird oft vergessen, dass Fanon den Begriff »Neokolonialismus« erstmals in Bezug auf die Kommunistische Partei Frankreichs verwendete. Erst in den späten 1960er Jahren, als Fanon schon tot war, entstanden starke Solidaritätsbewegungen mit antiimperialistischen Kämpfen. Portugals Revolution war sogar eine direkte Reaktion auf sie. Ein Bündnis zwischen der Arbeiterklasse im Norden und den antikolonialen Revolutionen im Süden war also durchaus möglich. Doch ohne diese Solidarisierung waren der Dekolonisierung enge Grenzen gesetzt.
Frantz Fanon und Che Guevara besitzen erstaunlich viele Gemeinsamkeiten: Beide waren Ärzte, beide schlossen sich als Internationalisten dem bewaffneten Widerstand in anderen Ländern an, beide glaubten an die revolutionäre Kraft der Dritten Welt. Woran liegt es eigentlich, dass Fanon weniger in die kollektive Erinnerung eingegangen ist als Guevara? Am Rassismus?
Man könnte auch Rosa Luxemburg in diese Reihe stellen. Alle drei sind gewissermaßen als Revolutionsheld*innen gestorben. Und auch bei Luxemburg könnte man fragen, warum sie in den meisten Ländern weniger bekannt ist als Guevara. Deshalb halte ich Rassismus nicht für die überzeugendste Erklärung. Ein Teil der Antwort ist natürlich, dass Guevara eine erfolgreiche Revolution anführte und eine Strategie zum Export dieses Projekts formulierte, nämlich die Fokus-Theorie, also die Gründung bewaffneter Organisationen auf dem Land. Fanon hingegen starb vor der Unabhängigkeit Algeriens und hatte auch nie eine zentrale Funktion in der Befreiungsbewegung. Die FLN schätzte ihn als Sprecher, aber selbst seine Mission im subsaharischen Afrika, wo Fanon 18 Monate als FLN-Botschafter unterwegs war, um ein panafrikanisches Projekt aufzubauen, besaß für die algerische Befreiungsbewegung keine Priorität. Die Unterstützung des Mittleren Ostens und Jugoslawiens war für die FLN weitaus wichtiger. Ein weiterer Grund ist, dass Fanon viel kontroversere Positionen vertrat als Guevara. Fanon war ein Philosoph, der sich keiner marxistischen Strömung zuordnete und ist in den vergangenen Jahrzehnten auf sehr unterschiedliche Weise gelesen worden. Ich würde auch behaupten, dass er zu den Problemen der Gegenwart sehr viel mehr zu sagen hat als Guevara. In vielen internationalen Debatten erlebe ich allerdings auch, dass versucht wird, die beiden in Dialog miteinander zu setzen. Gerade im Fall des Kongo, der sowohl Fanon als auch Guevara intensiv beschäftigte, bietet sich das an.
Welche Positionen Fanons sind heute besonders relevant?
Das erste wäre, dass Fanon nie das Vertrauen in die Menschen verloren hat – und das, obwohl er wusste, dass sie zu den schrecklichsten Dingen fähig sind. Das ist gerade heute wichtig, wo wir mit einer faschistischen Gefahr konfrontiert sind. Fanon war der Ansicht, dass Menschen die Bedingungen ihrer Unterwerfung ändern können. Zweitens gab er nie die Überzeugung auf, dass arbeitende Menschen die komplexesten Zusammenhänge verstehen können. In einem Einführungskurs mit Studierenden in Tunis gegen Ende seines Lebens las er einen damals neu übersetzten Text Rosa Luxemburgs über die Buren in Südafrika. Algerischen Guerillakämpfern, vielen von ihnen Bauern, hielt er Vorlesungen über Probleme bei Sartre. Drittens bleibt Fanons Einsicht, dass strukturelle Veränderungen der ökonomischen und politischen Sphäre ungenügend sind, wenn wir nicht auch die psychischen Dimensionen von Rassismus, Kolonialismus und Kapitalismus in den Blick nehmen. Subjektivität und Objektivität sind bei ihm eng verschränkt, und die Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen ist bei ihm keine automatische Folge struktureller Transformationen, sondern deren Maßstab. Und viertens schließlich finde ich bemerkenswert, dass Fanon im Laufe seines Lebens immer radikaler wurde. Nach der Ermordung Lumumbas stellte er sich immer weiter reichende Fragen – zu Arbeitsbedingungen, Technologie, Zeitautonomie, der Humanisierung der Arbeit, Entfremdungskritik. Das ist vielleicht die wichtigste Schlussfolgerung für mich: dass man im Alter radikaler werden kann.
Was sollten unsere Leser*innen unbedingt lesen?
Beginnen Sie mit »Schwarze Haut, weiße Masken« und machen Sie dann mit »Die Verdammten der Erde« weiter. Meiner Ansicht nach hat Fanon die in »Schwarze Haut, weiße Masken« entwickelte Analyse nie revidiert, sondern sie später politisch nur angewandt. Man sollte die Bücher also im Zusammenhang betrachten. Schließlich würde ich einen Band empfehlen, der 2015 auf Französisch veröffentlicht wurde: »Entfremdung und Freiheit«. Es sind 800 Seiten zuvor unveröffentlichter Texte: Artikel zu Psychiatrie, Fanons Theaterstücke, verschiedene politische Schriften. Wenn dieses Buch noch nicht auf Deutsch veröffentlicht ist, finden Sie einen Verlag, der es übersetzt und herausbringt. Es ist wirklich großartig.
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