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Rias will Vorfälle weiterhin nicht veröffentlichen
Bundesverband überträgt umstrittene Antisemitismus-Zählung auf andere EU-Staaten
Die bundesweite Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) will die meisten ihrer Tausenden dokumentierten Fälle weiterhin nicht veröffentlichen – und damit auch nicht wissenschaftlich oder journalistisch überprüfbar machen. Das teilte die staatlich geförderte Meldestelle auf Anfrage des »nd« mit.
Die Forderung nach mehr Transparenz hatte vor sechs Wochen eine Studie der jüdischen Diaspora Alliance erhoben. Darin heißt es, Rias überdramatisiere viele antisemitische Vorfälle, grenze das Wissen über Antisemitismus ein, erschwere damit sogar dessen Prävention und Bekämpfung und diene stattdessen dem Zweck, politische Narrative an den Rand zu drängen. Auch werde der Begriff »israelbezogener Antisemitismus« viel zu weit ausgelegt. Deshalb fordert die Diaspora Alliance, dass die angeblich zunehmenden antisemitischen Vorfälle auch von Dritten untersucht werden können.
Der allergrößte Anteil der gezählten antisemitischen Vorfälle ist nicht strafbar, Rias ordnet sie als »Vorfalltyp verletzendes Verhalten« ein. Dass diese unter Verschluss bleiben sollen, begründet die Organisation mit Datenschutz. In einem internen Informationssystem würden die Einträge anonymisiert, Namen oder sonstige »Direktbezüge« seien darin nicht recherchierbar. Ein »indirekter Personenbezug« könne aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden. »Deswegen unterliegt die Vorfallsdatenbank datenschutzrechtlichen Anforderungen, worunter auch die effektive Zugriffsbeschränkung gehört«, erklärte ein Sprecher.
Bei Itay Mashiach, der die Studie für die Diaspora Alliance verfasste, stößt das auf Kritik. »Im Jahr 2024 dokumentierte Rias 4664 Vorfälle ohne Betroffene und weitere 2215, bei denen Institutionen betroffen waren – insgesamt sind das 80 Prozent aller Vorfälle«, sagt der Wissenschaftler gegenüber »nd«. Es müsse möglich sein, zumindest für deren Veröffentlichung »eine Methodologie oder eine Technologie zu finden, die ohne jeden Datenschutzverstoß mehr Transparenz schafft«.
Soweit bekannt beziehen sich viele der Vorfälle von »verletzendem Verhalten« auf Graffitis oder Aufkleber im öffentlichen Raum – diese dürften also kaum auf Absender*innen oder Adressat*innen rückführbar sein. Dasselbe gilt für Massenmails – es bleibt unklar, ob Rias diese mehrfach zählt. So ist es über die Berliner Register bekannt, dessen Meldungen zum Teil auch in die Rias-Datenbank einfließen. In jenem Register wird jeder entdeckte Aufkleber, der Israel mit dem Vorwurf der Apartheid belegt, als einzelner Vorfall von »israelbezogenem Antisemitismus« registriert.
Diese weitreichende Definierung des Begriffs wird auch in der Studie der jüdischen Organisation kritisiert. Rias legt zu »israelbezogenem Antisemitismus« die umstrittene und sogar noch verschärfte IHRA-Definition zugrunde. So fügte die Meldestelle Kritierien hinzu, die auch viele politische Äußerungen in die Nähe von Antisemitismus rücken – etwa die Darstellung des Staates Israel als koloniales Projekt. Jedoch halten auch viele namhafte Forscher*innen daran fest, dass es in einem siedlerkolonialen Israel Apartheid gibt oder das Militär des Staates in Gaza einen Genozid begeht. Selbst der Internationale Gerichtshof in Den Haag hält den Genozidvorwurf als Anfangsverdacht für plausibel.
Technisch könnte es Rias möglich sein, die dokumentierten Fälle sorgfältiger zu kategorisieren. So könnten etwa Einträge zu körperlichen Bedrohungen oder Angriffen auf der einen Seite von unpersönlichen Massenzuschriften, Aufklebern, Graffitis an öffentlichen Gebäuden oder Vorkommnissen im Kontext von Versammlungen auf der anderen getrennt werden. Das ist aber nicht gewünscht: »Die Kategorie ›nicht-personenbezogene antisemitischen Vorfälle‹ existiert nicht, daher kann danach nicht gesucht werden«, erklärt Rias.
An der Technik liegt es offenbar nicht: Für die »Dokumentation, Kategorisierung und Auswertung von antisemitischen Vorfällen« hat Rias mithilfe finanzieller Förderungen eine eigene »Datenbanktechnologie« entwickelt. Allerdings bleibt deren Funktionalität unklar – über eine reine Excel-Anwendung gehe die Software hinaus, erklärt die Organisation. Automatisierte Routinen oder Anwendungen Künstlicher Intelligenz enthalte sie aber nicht.
Mittlerweile macht Rias ihren Ansatz zur Meldung und Zählung antisemitischer Vorfälle auch anderen EU-Staaten zugänglich. Dazu hat die deutsche Organisation die Geschäftsführung eines neu gegründeten »European Network for Monitoring Antisemitism« (ENMA) übernommen. Dem Netzwerk gehören jüdische und nicht-jüdische Organisationen aus Österreich, Polen, Tschechien und Italien an. Finanziert wird das Vorhaben mit 400 000 Euro von der EU-Kommission und weiteren 44 000 Euro von einer Berliner Stiftung. Wie in Deutschland soll auch das europäische Netzwerk die umstrittene – und von Rias modifizierte – IHRA-Definition anwenden.
Itay Mashiach hofft, dass das ENMA-Projekt nun für mehr Transparenz sorgt. »Die Öffentlichkeit hat das Recht zu wissen, was hinter den Zahlen steckt und was Rias überhaupt als Antisemitismus zählt. Die Ausweitung der Methodik auf andere Länder könnte dazu neuen Druck aufbauen«, sagt der Forscher zu »nd«.
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