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Wisente im Morgengrauen: Unterwegs im Białowieża-Urwald

In Polens letztem Urwald erwacht die Wildnis – mit seltenen Tieren, alten Eichen und stillen Pfaden durch das Naturerbe Europas

  • Heidrun Lange
  • Lesedauer: 5 Min.
Wisente im Białowieża-Urwald
Wisente im Białowieża-Urwald

Wenn die Wettervorhersage am Abend einen klaren Himmel für die Nacht ankündigt, stellt Łukasz Długowski seinen Wecker auf vier Uhr morgens. Mit Kamera und Fernglas ausgerüstet, macht er sich auf den Weg in den Wald. Der Boden ist noch feucht vom Tau. Das sanfte Morgenlicht beginnt, den Himmel in zarten Orangetönen zu färben, während die Natur langsam erwacht. Geduldig und mit geschultem Blick streift er durch das Unterholz und sucht den Wisent, der oft vorsichtig aus dem Nebel tritt. Das Tier steht dann im Morgengrauen auf einer Lichtung wie ein Wesen aus einer anderen Zeit. Und plötzlich ist es wieder weg.

»Wer die Tiere sehen möchte«, sagt der Naturführer Łukasz, »der sollte zu uns kommen.« Denn nirgends sonst ist die Chance in Europa so groß, einen Wisent in freier Wildbahn zu sehen. Früher war der Białowieża-Urwald ein königliches Jagdrevier. Allerdings schonten und schützten die polnischen Könige und Zaren den Wald. Im ehemaligen Jagdschloss, das heutzutage ein Museum ist, lässt eine Ausstellung die königliche Jagdkultur und die Geschichte des Parks lebendig werden.

Ein Dorf am Tor zum Urwald

Das kleine Dorf Białowieża mit seinen 2000 Einwohnern ist ein idealer Ausgangspunkt, um den Urwald zu erkunden. Entlang traditioneller Holzhäuser und vorbei an der orthodoxen Kirche geht der Weg in den Schlosspark. Von dort aus schlängelt sich ein Feldweg in Richtung des streng geschützten Gebietes, das nur in Begleitung eines offiziellen Guides betreten werden darf.

Hinter dem schweren Holztor erheben sich jahrhundertealte Eichen, Kiefern und Eschen bis zu 50 Meter in die Höhe. Sonnenstrahlen dringen durch die Kronen und lassen die meterhohen Farne und Brennnesseln in sattem Grün leuchten. Am Boden ist ein leises Fiepen zu hören, während Eidechsen, Mäuse und Käfer über Laub, Gras und Baumwurzeln huschen. Die sanften Hügel, Moorseen und mächtigen Bäume bieten Lebensraum für scheue Wölfe und Luchse, die im Dickicht auf Beutefang sind und Wildschweine, Rehe sowie Hirsche jagen. Außerhalb der strengen Schutzzone sind besonders am Morgen und Abend die zotteligen Wisente unterwegs.

Zurzeit streifen etwa 1500 frei lebende Wisente durch Polens Wälder.

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Das war nicht immer so. Das letzte wilde Exemplar wurde 1919 im Białowieża-Urwald erlegt. Ein Jahr später begann ein Botaniker mit der Wiederansiedlung der sanften Riesen und richtete eine Aufzuchtstation ein. Dank strenger Schutzmaßnahmen und internationaler Zusammenarbeit in Zoos wurden die Wisente gerettet. 1952 wurden die ersten Tiere wieder in die Freiheit entlassen. Zurzeit streifen etwa 1500 frei lebende Wisente durch den polnischen Wald, davon die Hälfte im Urwald. Sie sorgen dafür, dass große Flächen offen bleiben, was die Vielfalt der Wälder und Wiesen zeigt.

Tipps
  • Allgemeine Informationen:
    www.polen.travel/de
    www.podlaskie.it
  • Anreise: Der Białowieża-Urwald liegt im Grenzgebiet zwischen Polen und Bela­rus in der polnischen Woiwodschaft Podlachien. Mit Bahn oder Linienbus: Ab Warschau gibt es Zugverbindungen nach Haj­nówka, Fahrtdauer etwa drei bis vier Stunden. Von Haj­nówka aus sind es dann nur noch etwa 20 Kilometer bis Białowieża. Von dort mit dem Bus oder einem Taxi.
  • Tipp: Die Wildrinder mit dem zotteligen Fell sind schwer zu entdecken. Am besten ist es im Winter oder Frühjahr und mit einem ortskundigen Guide. Falls sich in der freien Wildbahn kein Wisent gezeigt hat, lohnt ein Besuch im Wisent­gehege in der Nähe des Dorfes Białowieża.
  • Unterkunft und Restaurant: Das Apartamenty Carskie befindet sich im ehemaligen Bahnhof »Białowieża Towarowa«, der im frühen 20. Jahrhundert für Zar Nikolaus II. gebaut wurde. Heutzutage ist er ein Hotel mit Apartments im Haus des Bahnwärters, einem Wasserturm und luxuriösen Salonwagen. Das Restaurant im Bahnhofsgebäude bietet exzellente lokale Küche. www.carska.pl 

Łukasz wollte diese Gegend kennenlernen, inspiriert durch einen Zeitschriftenbeitrag über Europas letzten Tiefland-Urwald. In Chile hatte er als Fischer gearbeitet, in Finnland die einsamen Sümpfe im entlegenen Lappland erkundet. »Es scheint, als sei ich genetisch dazu bestimmt, mich von abgelegenen Orten anziehen zu lassen«, sagt er. Zurzeit führt er Besucher auf den Pfaden des Wolfes oder Wisents durch den Urwald.

Hüter alter Traditionen

Fast jeden Morgen springt er in den kalten Fluss Narewka, der sich gemächlich am Rande des Dorfes und durch Sümpfe und Röhrichte schlängelt. Ein idealer Rückzugsort für zahlreiche Vogelarten. Im Schilf, das den Rand des Gewässers säumt, hat eine Stockente am Boden ein Nest gebaut, gut verborgen und geschützt vor Räubern. Während das Wasser sanft plätschert und die Gräser im Wind wiegen, ruft ein Uhu in den angrenzenden Wald. Inmitten des alten Holzes haben sie ihre Nistkästen und Höhlen eingerichtet, die einen sicheren Zufluchtsort bieten.

Łukasz lehnt sich an einen Baum, an dem ein scheues Eichhörnchen wohnt, das sich nur selten blicken lässt. Zu seinen Füßen breiten sich die moosbedeckten Wurzeln aus. Fast immer kommt er an dem großen, zwergenhutförmigen Baumpilz vorbei, der sehr alt ist und so hart wie Holz. »Jahrelang dachte ich, die Waldgebiete in ganz Europa seien nur dichte, monotone Kiefern- und Eichenwälder«, sagt er.

Mit dem Białowieża-Urwald ist das nicht zu vergleichen. Die alten Eichen, Buchen, Eschen und Linden werden streng geschützt. Holz wird nur in ausgewählten Bereichen entnommen, um den Urwald zu bewahren. Dabei werden alte Traditionen bewahrt, wie das Sammeln von Honig aus Wildbienenstöcken. Entlang ausgewiesener Pfade informieren Tafeln über das Handwerk der Zeidler, die seit dem Mittelalter Wildbienenstöcke pflegen und Honig ernten. Der Imker Pjotr zeigt, wie die Ernte schon immer betrieben wurde. Mit Schutzausrüstung klettert er an einem Baum bis zum Holzkasten, trägt am Gürtel Stock und Spachtel, Werkzeuge, die beim Öffnen des Bienenkastens benötigt werden. Vorsichtig hebt er den Deckel ab und entnimmt ohne Netz und Handschuhe eine Wabe. »Stichfest muss man in diesem Job sein«, sagt er lachend.

Da die Felder hier nur extensiv bewirtschaftet werden, hat der Honig Bio-Qualität. Łukasz Długowski schaut in die weite, ruhige Landschaft. »Hier in den Hinterwäldern«, meint er, »kann man noch die Seele der Natur spüren. Unberührt, wild und frei.«

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