- Berlin
- Sozialpolitik
Nach Zahlungsstopp vom Jobcenter: Familie fast obdachlos
Die Deutsche Wohnen kündigt dreifacher Mutter – Behörde hatte zweimal die Mietzahlung eingestellt
Es ist eine Horrorvorstellung: der Verlust der Wohnung. Mit dieser Aussicht sah sich Sahra M. aus Reinickendorf konfrontiert. Die Mutter von drei kleinen Kindern hätte am 30. Juli vor Gericht gemusst. Ihr Vermieter, die Deutsche Wohnen, hatte ihr zweimal fristlos gekündigt, bei dem Gerichtstermin sollte ein Räumungstermin festgelegt werden. Mit ihrem richtigen Namen möchte Sahra M. nicht in der Zeitung stehen. Er ist der Redaktion bekannt. Am Freitag kommt dann aber die frohe Botschaft, dass die Deutsche Wohnen die Kündigung zurücknimmt.
Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei hat den Fall in den sozialen Medien öffentlich gemacht. Der Verein unterstützt Menschen, denen das Jobcenter Leistungen gekürzt oder nicht bewilligt hat. Der Vater der Kinder sei letztes Jahr plötzlich verstorben, M. in dieser Situation völlig allein gewesen. Letztendlicher Auslöser für die Kündigungen seien durch das Jobcenter entstandene Zahlungsrückstände gewesen.
Schon am Donnerstag war klar geworden, dass Sahra nicht ausziehen muss. Wie ein Sprecher der Deutsche Wohnen auf nd-Anfrage am Donnerstag mitteilt, habe man eine Lösung erarbeitet. »Der Räumungstermin ist abgesagt. Alles Weitere besprechen wir direkt mit unserer Mieterin«, so der Sprecher weiter. Man versuche Räumungen zu vermeiden.
Das Angebot, das der Vermieter gemacht habe, sei unzureichend, sagt Helena Steinhaus zu »nd«. »Die Deutsche Wohnen hat angeboten, die Räumung auszusetzen, will aber den Räumungstitel behalten«. Das bedeute, sobald es zu Zahlungsrückständen komme, könne Frau M. jederzeit geräumt werden. »Gerade nach den Erfahrungen mit dem Jobcenter ist das unzumutbar. Es kann immer mal was passieren, und dann kommt die Miete eine Woche zu spät.« Man wolle eine andere Vereinbarung zu treffen: Wenn für sechs Monate keine Rückstände mehr eintreten, soll die Deutsche Wohnen auf den durch die zwei fristlosen Kündigungen entstandenen Räumungsanspruch komplett verzichten. »In Anbetracht dessen, dass das Jobcenter schuld war, wäre das nur angemessen.«
Am Freitag kommt dann die erlösende Nachricht. Die Deutsche Wohnen ist auf den Vorschlag eingegangen und nimmt die Kündigung zurück, wenn für sechs Monate keine Mietrückstände entstehen. Vermutlich auch, weil der Fall auf sozialen Medien erheblich Aufmerksamkeit bekommen hat.
Aber wie konnte es so weit kommen, dass M. die Obdachlosigkeit drohte? »Das Jobcenter hat einfach zweimal die Zahlung ihrer Miete eingestellt, einer Mutter mit drei Kindern!«, empört sich Steinhaus im Gespräch mit »nd«. Das erste Mal, als das passiert sei, von April bis September 2024, sei Sanktionsfrei eingesprungen, berichtet sie. »Das wurde dann zwar nach anwaltlicher Unterstützung nachgezahlt, aber die Einstellung war eine unverhältnismäßige Härte.«
»Dafür gibt es keine Erklärung und keine Entschuldigung. Es kann nur bedeuten, dass in diesem Jobcenter etwas ordentlich schiefläuft.«
Helena Steinhaus Sanktionsfrei e.V.
Ein Pressesprecher der Berliner Jobcenter schreibt auf Anfrage, dass man bis zu Presseanfragen keine Anhaltspunkte für eine drohende Wohnungslosigkeit von Frau M. gehabt habe. »Die Mietrückstände wurden von uns im April vollständig beglichen und an den Vermieter überwiesen.« Man bedaure sehr, dass Frau M. den Verlust ihrer Wohnung befürchte. Nachdem man vom drohenden Wohnungsverlust erfahren habe, seien vom Jobcenter umgehend unterstützende Maßnahmen angestoßen worden, und man habe mit der sozialen Wohnhilfe und dem Vermieter Kontakt aufgenommen. »Gerne wären wir früher aktiv geworden.«
Die Zahlungsrückstände sind wohl das Ergebnis vieler kleiner bürokratischer Entscheidungen. Im Juli 2024 habe man durch ein Schreiben von einer drohenden Räumung der Wohnung zu Oktober 2024 erfahren, teilt die Pressestelle weiter mit. Daraufhin sei die Miete zu Oktober 2024 vorübergehend ausgesetzt worden. »Das ist üblich, um Überzahlungen bzw. Schulden für die Menschen gegenüber dem Jobcenter zu vermeiden«, so der Sprecher weiter. Schon die erste fristlose Kündigung war aber eine Folge der eingestellten Leistungen.
Normalerweise wird, wenn die Räumung abgewendet werden kann, die Mietzahlung wieder aufgenommen. »Hier kam es leider zu einem unglücklichen Missverständnis, für das wir uns ausdrücklich entschuldigen«, sagt der Sprecher. Leider hätten weder Frau M. noch der Vermieter das Jobcenter auf die ausbleibenden Zahlungen hingewiesen. Als man das im Februar bemerkt habe, habe man »sofort gehandelt, den Mietrückstand vollständig beim Vermieter beglichen und die Miete ab April 2025 wieder angewiesen«.
Frau M. hätte überhaupt nicht merken können, dass die Miete nicht gezahlt wurde, sagt Helena Steinhaus. Denn die Miete wurde in ihrem Fall direkt vom Jobcenter an den Vermieter überwiesen. »Das ist mal so, mal so bei den Jobcentern«, so Steinhaus weiter. Immerhin: Dieses Problem scheint jetzt geklärt. Die Jobcenter-Pressestelle teilt mit, dass die Auszahlung der Miete seit Juni 2025 direkt an Frau M. erfolge. Die Verantwortung zur Weiterleitung der Miete an den Vermieter liege seitdem somit bei Frau M. selbst. Am Vermieter lässt Steinhaus kein gutes Haar: »Sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten fristlosen Kündigung haben sie sich ohne Zögern die Finger schmutzig gemacht. Sie wussten um die persönliche Situation von Sahra.«
Die Deutsche Wohnen schreibt, man wolle Räumungen vermeiden. »Deswegen gehen wir frühzeitig auf die Mieter:innen zu, um mit ihnen zu sprechen. Das klappt auch meistens«, so der Unternehmenssprecher. Manchmal werde der Gesprächsfaden zur Lösung nicht aufrechterhalten, und die Probleme mit dem Mietverhältnis würden weiterhin bestehen.
Auf die Frage, wie solche Fälle in Zukunft zu vermeiden sind, verweist der Jobcenter-Sprecher auf das in der Leistungsbearbeitung gängige Vier-Augen-Prinzip. »Dennoch arbeiten im Jobcenter auch nur Menschen. Unseren Kund*innen steht für die Überprüfung unserer Entscheidung immer die Möglichkeit einer leistungsrechtlichen Beratung im Jobcenter und des Widerspruchs offen«, so der Sprecher weiter.
»Dass Leistungen eingestellt, zurückgehalten, versagt oder teilweise eingestellt werden, ist gängige Praxis im Jobcenter«, sagt Helena Steinhaus. Im Fall von Frau M. sei das unverhältnismäßig hart geschehen und obwohl es juristisch nicht haltbar gewesen sei. »Dafür gibt es keine Erklärung und keine Entschuldigung. Es kann nur bedeuten, dass in diesem Jobcenter etwas ordentlich schiefläuft.«
Hinweis: Nachdem bekannt geworden ist, dass die Deutsche Wohnen die Kündigung zurückgenommen hat, wurde der Artikel aktualisiert
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.