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Gemeinsam durch die Mühen der Ebene
Nach hartem Kampf um den Aufbau eines soziokulturellen Zentrums in Münster muss dieses nun in der Praxis bestehen
Nach neun Jahren Kampf gegen Bürokratie und Burnout, nach neun Jahren Hoffen, dass es diesmal anders geht – ohne Chefs, ohne Investoren –, nach neun Jahren Herzblut für einen Ort, der beweisen soll, dass kollektive Selbstverwaltung mehr sein kann als Idealismus mit Augenringen, sitzen fünf Menschen vor ihren Laptops und scheitern am WLAN. Die brechtschen Mühen der Gebirge sind geschafft, die Mühen der Ebenen gehen gerade erst los.
Draußen schwappt das grünlich schimmernde Hafenwasser gegen die Kaimauer. Drinnen, zwischen kahlen Wänden, eröffnet Tim Többe das Plenum mit dem gewohnten Check-in: »Mir geht’s gut, aber wir sind wie immer zu wenig Leute für zu viele Aufgaben. Check.«
Im soziokulturellen Zentrum B-Side, auf der Südseite des Münsteraner Hafens, trifft sich der Arbeitskreis Commons. Jeden Donnerstag geht es hier um die Frage, wie sich gemeinschaftlich genutzte Ressourcen nachhaltig organisieren und solidarisch pflegen lassen. Denn bisher war der Weg zur Utopie gepflastert mit Verschleiß und Erschöpfung.
Eine Etage höher, im Bewegungsraum, wo sich die Gerüche von frischem Holz und altem Schweiß mischen und das Gehirn kurz stutzen lassen, wo Yogamatten an Boxpratzen lehnen, sollen sich die »Yoguerillas« ein neues Finanzierungsmodell überlegen. Das bisherige Prinzip – 30 Prozent der Kurseinnahmen, maximal aber 15 Euro pro Unterrichtsstunde, bekommt die B-Side – geht nicht mehr auf. Strom und Heizung sind teuer, und künftig soll eine bezahlte Stelle entstehen, die den Raum organisiert. »Damit nicht dieselben zwei Leute alles ehrenamtlich machen müssen, wie seit acht, neun Jahren«, sagt Tim. »Selbstausbeuterisch.«
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Alle entscheiden gemeinsam, jeder darf mitmachen
Tim Többe, 42, schätzt, dass er vier bis fünf Jahre rund 20 Stunden pro Woche ehrenamtlich in den Kampf für die B-Side gesteckt hat. Heute sind es nur noch etwa fünf Stunden Ehrenamt, für 27 Wochenstunden bekommt er inzwischen Geld, von der B-Side GmbH und von externen Förderern.
Tim war von Anfang an dabei, als vor zehn Jahren eine Gruppe von Künstlern und Kreativen gegen den Ausverkauf des alten Hafenviertels mobil machte. Ein Investor wollte den baufälligen Hill-Speicher von der Stadt kaufen – Rendite mit Büros, statt Freiraum für Kultur.
Doch das Kollektiv der Kreativen hatte andere Pläne und trieb Landesmittel für den Umbau ein. »Am Anfang dachten wir, das dauert vier Jahre, und bei Problemen schauen wir uns tief in die Augen«, sagt Tim. Es dauerte neun Jahre und heute kennt er längst nicht mehr alle, die die B-Side mit Leben füllen. Im September 2024 feierten sie die Neueröffnung.
Mit fast zehn Millionen Euro und unzähligen Ehrenamtsstunden ist in dem alten Speicher auf 3500 Quadratmetern das entstanden, was Tim ein »gallisches Dorf der Zivilgesellschaft und Selbstorganisation« nennt: ein Veranstaltungssaal für 400 Gäste, ein Café mit Mittagstisch, aber ohne Verzehrzwang, Gruppenräume und Büros für gemeinwohlorientierte Initiativen.
Es gibt eine Holz- und Metallwerkstatt mit 3D-Drucker und CNC-Fräse, Gemeinschaftsateliers, Proberäume, Lastenräder, eine professionelle Küche, die alle nutzen können, und unterm Dach: den lichtdurchfluteten Bewegungsraum.
Die B-Side GmbH beschäftigt 28 Mitarbeitende, verteilt auf zehn Vollzeitstellen. »Wir werden noch mehr einstellen müssen«, sagt Tim. Etwa 50 Personen bringen sich regelmäßig ehrenamtlich ein, bei einzelnen Aktionen sollen es sogar bis zu 200 sein. Obwohl die B-Side keine Miete zahlen muss, rechnet sie allein im ersten Betriebsjahr mit monatlichen Ausgaben von 80 350 Euro. Und doch bleibt der Anspruch bestehen: Alle entscheiden gemeinsam, jeder darf mitmachen, keine Hierarchien. Kann das auf Dauer gut gehen?
An einem Dienstag um 19.31 Uhr hat jemand im Plenum der »Hansawerkstatt« eine gute Idee: erst mal durchlüften. Seit 44 Minuten mäandert die Diskussion des ersten Tagesordnungspunkts von Nebenaspekt zu Einzelpunkt und doch immer wieder zurück zum Kern: Wer darf die Werkstatt aufschließen und eigenverantwortlich nutzen? Dort stehen nicht nur teure Maschinen wie die CNC-Fräse, sondern auch Kreissägen, die Gliedmaßen abtrennen könnten.
»Es geht um Diebstahl, Beschädigungen, Verletzungen«, fasst die Moderatorin zusammen, schwarzer Mischlingshund auf dem Schoß, Piercings in Lippe und Nase, den Dutt mit einem Fineliner fixiert. Sie versucht, die Debatte in Richtung Entscheidung zu lenken. Die neue Regel soll verbindlich und gleichzeitig nicht zu verbindlich sein – um niemanden auszuschließen.
An der Wand erscheint die Beschlussvorlage, vom Protokollanten in Echtzeit bearbeitet und projiziert: »Personen mit eigenständigem Zugang zur Werkstatt müssen regelmäßig zum Plenum kommen.« Was »regelmäßig« heißt, bleibt offen. Die Moderatorin blickt in die Runde und fragt: »Gibt es gegen diesen Beschluss Widerstände? Eins, zwei, drei.« Bei drei kreuzen alle zwölf Anwesenden gleichzeitig die Arme vor der Brust: keine Widerstände. Ein erhobener Arm hätte Widerstand signalisiert, zwei Arme doppelten Widerstand.
Das dahinterliegende Prinzip heißt Systemisches Konsensieren. Es misst nicht Zustimmung, sondern Widerstand. Und Blockaden, wie sie in klassischen Konsensverfahren mit Vetorecht möglich sind, können so vermieden werden. Gewählt wird die Option mit dem geringsten Widerstand, also die Lösung, die dem Konsens am nächsten kommt. Meist gelingt es aber schon in der Diskussion, einen Beschluss zu formulieren, mit dem alle leben können. Auch, wenn das manchmal eben dauert.
»Faltenrocker« und eine besondere Gesprächskultur
Doch was bringt all das Konsensieren, Moderieren, Protokollieren und von unten nach oben Delegieren, wenn es menschlich nicht passt? Oder wenn Wissen und informelle Macht sich trotzdem bei Einzelnen bündeln? Weil sie charismatisch sind, weil sie mehr Erfahrung haben, weil sie mehr gelesen haben?
Tim Többe sitzt mit geradem Rücken auf der Terrasse der B-Side. »Genauso wichtig wie die Struktur«, sagt er, »ist die Kultur«. Zur Kultur in der B-Side gehören Selbstreflexion und ein offener Umgang mit Fehlern, so steht es auf der Website. Noch finde man hier viele Gleichgesinnte, sagt Tim, obwohl die Gruppe längst nicht so homogen sei wie manch andere linke Kollektive.
Er selbst versuche, Verantwortung abzugeben, Raum zu schaffen für eine neue Generation. Doch loszulassen, Vertrauen zu schenken, falle ihm schwer – auch wenn er im Nachhinein oft begeistert sei von dem, was andere auf die Beine stellen. Ein paar Tage nach dem Treffen des Arbeitskreises Commons wird er sagen, dass er mit seinem großen Redeanteil beim Plenum unzufrieden war.
An einem anderen Mittag trippelt Burkhard Zimmer ins Café der B-Side, bleibt vor der Tafel mit den Wochengerichten stehen und fragt sich laut, ob »Chili sin Carne« wirklich ohne Fleisch ist. Burkhard, 71, Schiebermütze auf dem Kopf und grauer Bart am Kinn, ist so etwas wie das Bindeglied zwischen der B-Side und einer neuen, oder eher: alten Generation. Vor fünf Jahren brachte er den »Faltenrock« zur B-Side. Heute kommen fast 500 Menschen zur monatlichen Ü60-Party. Bis zu 40 helfen mit, sechs bis acht stehen am DJ-Pult. Fast alle sind Rentner.
Die B-Side lernte Burkhard 2018 über einen Arbeitskollegen kennen. Er hebt den Kopf, deutet mit einem Nicken in die Ecke neben der Kuchenvitrine. Dort drüben, als hier alles noch eine Ruine war, saß er zum ersten Mal in einem Plenum. Das Chili steht nun vor ihm, ohne Fleisch, auf einem Tisch aus recyceltem Holz. »Ich war völlig geflasht«, sagt er. Von der Disziplin. Von den Zeitwächtern. Von der Moderation. Von den Handzeichen.
Jahrelang war Burkhard für das Marketing eines Kühltechnikherstellers zuständig, flog beruflich um die halbe Welt – China, Nordamerika, Südamerika. Er erinnert sich an endlose Meetings, in denen Manager redeten und redeten, sobald sie einmal das Wort hatten. »Man musste brutal werden, um überhaupt zu Wort zu kommen«, sagt er – und blickt mit großen Augen über seine Bohnen. Hier aber, in der B-Side, sei das anders. Die Gesprächskultur: respektvoll. Die Gruppendynamik: so, dass man die Aufgaben gern übernimmt.
Heute kämpft Burkhard nicht nur dafür, dass bei der Musikauswahl allein der Groove zählt, damit es »den Leuten in den Beinen zuckt, um mit Freude zu tanzen«. Er versuche auch, in der vielschichtigen Gruppe – ältere Menschen, nicht nur Akademiker – »ganz vorsichtig B-Side-Luft wehen zu lassen«. Etwa wenn er durchsetzt, dass aus den Boxen kein Rammstein oder Musik von anderen problematischen Gruppen mehr dröhnt. Oder wenn er anderen Senioren erklärt, was der Sammelbegriff »FLINTA« bedeutet. Das sei oft »etwas anstrengend«, sagt Burkhard.
Und manchmal versteht selbst er, der ganz selbstverständlich von Dingen wie »NFTs«, »Blockchain« und »ChatGPT« spricht, die jungen Leute nicht. Zum Beispiel vor ein paar Jahren, als Einzelne pauschal »alte, weiße Männer« für übergriffiges Verhalten verantwortlich gemacht haben. »Ich bin ja äußerlich auch ein alter, weißer Mann«, sagt Burkhard. Aber einer, der genau hinschaue. Er sei froh, dass es in der B-Side eine Awareness-Gruppe gibt, an dessen Regeln sich das Faltenrock-Team orientieren kann.
Doch all die Diskussionen, gelegentlich auch Enttäuschungen, sie scheinen sich zu lohnen. Als der »Faltenrock« im Oktober 2024 nach der Sanierung in die B-Side zurückkehrte, als 400 Gäste zu Queen, Black Sabbath und Nirvana zum ersten Mal im neuen Veranstaltungssaal ihre Hüften schwangen, als Dutzende flirteten wie früher, Augenpaare den Raum nach Blickkontakt abtasteten – da stand Burkhard auf der Bühne. Er machte die Ansagen zwischen den Songs. Und hatte Tränen in den Augen.
Tim Többes Mission im Arbeitskreis Commons ist es zu zeigen, dass die »Tragik der Allmende« kein Naturgesetz ist. Der Ökologe Garrett Hardin beschrieb mit diesem Begriff, dass frei zugängliche Ressourcen zwangsläufig übernutzt würden – weil jeder für sich das Beste rausholen wolle und dadurch langfristig kollektive Schäden verursache. Es fehle die Bereitschaft, freiwillig Verantwortung zu übernehmen.
Tim aber glaubt, dass es auch ohne steuernde Autorität von außen geht. Er läuft an der Allmende-Küche der B-Side vorbei und spricht von den »acht Designprinzipien« Elinor Ostroms. Die Wirtschaftsnobelpreisträgerin zeigte, dass Menschen in lokalen Gemeinschaften oft sehr nachhaltig mit Ressourcen umgehen – wenn sie gut informiert sind, einander vertrauen und klare Regeln entwickeln.
Statt auf Eintrittspreise oder Mieten für die Gruppenräume will die B-Side auf »Reproarbeit« setzen: Etwa Bühnenaufbau, Thekendienste, Müllentsorgung oder Pflanzenpflege. Kollektive Verantwortung, die Identifikation schafft. Damit das funktioniert, entwickelt der Arbeitskreis Commons ein Modell für faire Verteilung von Nutzung und Pflege, dokumentiert in einem digitalen Tool, das Transparenz und Verbindlichkeit schaffen soll. Noch ist das Plenum damit beschäftigt, zu klären, welche Aufgaben für den kommenden »Reproarbeitstag« überhaupt in Frage kommen. Ideen gibt es viele – aber die komplexe Realität bremst mal wieder.
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