Hikmat Al-Hidschri: Befreier, Verräter, Agent?

Wer ist der umstrittene syrische Drusen-Anführer Hikmat Al-Hidschri?

Ein Stammesführer bei Scheikh Hikmat Salman Al-Hidschri (rechts), einem der geistlichen Führer der Drusen
Ein Stammesführer bei Scheikh Hikmat Salman Al-Hidschri (rechts), einem der geistlichen Führer der Drusen

Die Lage in Suweida ist unübersichtlich, der neueste Waffenstillstand scheint größtenteils zu halten. Berichte von Kriegsverbrechen und Massenerschießungen von Zivilist*innen erreichen die Öffentlichkeit. Aus dem Nebel des Krieges sticht eine Figur jedoch besonders hervor – Hikmat Al-Hidschri, Kopf drusischer Milizen und Hardliner gegen die Regierung Al-Scharaas. Doch wer ist Al-Hidschri? Hikmat Al-Hidschri ist einer der drei syrischen Scheikhs, der religiösen Führer der syrischen Drusen. Sein Aufstieg begann durch den Tod seines Bruders und Amtsvorgängers Ahmad Al-Hidschri im März 2012. Der ehemalige Präsident Baschar Al-Assad, war bei der Beerdigung anwesend, wobei gemutmaßt wird, dass er den Tod seines Bruders in Auftrag gab. Dort habe Hikmat Al-Hidschri das erste Mal öffentlich seine Unterstützung für Assad geäußert, ein Jahr nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs.

Was folgte, waren Jahre der Regimetreue: Al-Hidschri drängte den damaligen Leiter des syrischen Militärgeheimdienstes, Wafiq Nasser, dazu, eine revolutionäre drusische Miliz namens »Männer in Würde« zu beseitigen. Weiter rief er die drusische Jugend auf, sich Assads Armee anzuschließen. 2017 verlieh ihm eine Delegation der schiitischen paramilitärischen Gruppe »Harakat Hezbollah Al-Nudschaba« – einer von den iranischen Revolutionsgarden unterstütztes Mitglied der gegen Israel gerichteten sogenannten Achse des Widerstands – das »Schild des islamischen Widerstands«. Al-Hidschri war im Regime Assads gut positioniert.

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Wechsel der Seiten

Als sich im Frühjahr 2020 die wirtschaftliche Lage in Suweida verschlechterte, unterstützte er die lokalen Proteste. Im April 2021 wechselte Al-Hidschri dann endgültig das Lager, nicht wegen jahrelanger Folter und Entführungen durch das Regime, sondern wegen einer persönlichen Beleidigung und Abwertung der Drusen durch einen syrischen Brigadegeneral – eine Schwächung seiner Position.

Al-Hidschri gilt als machthungrig. Seine Zeit als Scheikh ist geprägt von Machtkämpfen mit den beiden anderen Scheikhs, Jusef Dscharbo und Hamud Al-Hanawi. Dies ging so weit, dass sich Al-Hidschri im Bestreben, alleiniger Scheikh der Drusen zu sein, abspaltete und in Suweida jeweils zwei verschiedene religiöse Zentren aufgebaut wurden. Als sich 2023 auch in Suweida eine Anti-Assad-Bewegung festigte, trat er vermehrt als prominenter Fürsprecher der Revolution auf und begann seinen Einfluss auf die Bewegung auszuweiten.

Nach Assads Sturz am 8. Dezember 2024 formierte sich in der Provinz Suweida der »Militärrat Suweida« – ein loser Zusammenschluss unterschiedlicher drusischer Milizen, davon mehrere unter der ideologischen Führung Al-Hidschris. Hikmat Al-Hidschri vertritt offiziell die Idee eines dezentralen, säkularen und demokratischen Syriens, Gegner werfen ihm jedoch vor, primär seine eigene Macht sichern zu wollen. Gegenüber dem neuen Präsidenten Syriens, Ahmad Al-Scharaa, trat Al-Hidschri von Beginn an äußerst kritisch und aggressiv auf, nannte ihn einen »Terroristen« – was bei Al-Scharaas Vergangenheit durchaus nachvollziehbar ist. Zeitgleich nahm Al-Hidschri Kontakt zum Oberhaupt der Drusen in Israel, Scheikh Muwaffaq Tarif, auf. Die zwei anderen drusischen Scheikhs, Dscharbo und Al-Hanawi, sowie die größte Miliz der Drusen, die »Männer in Würde« – jene Gruppe, deren Auslöschung Al-Hidschri 2015 noch von Assads Militärgeheimdienst gefordert hatte, waren einer Zusammenarbeit mit der neuen Regierung durchaus offen eingestellt, diese hatte den Drusen und anderen Minderheiten Sicherheit versprochen.

Die Massaker an alawitischen Zivilist*innen an der Westküste im März 2025 ließen Al-Scharaas Versprechungen hohl wirken. Ende April wurde ein Deepfake eines drusischen Geistlichen verbreitet, der vermeintlich lästerlich über den Propheten Mohammad gesprochen habe. Daraufhin kam es, trotz Richtigstellung der Regierung, zu Angriffen auf Drusen in Damaskus und Suweida, woraufhin Israel seine Bombenangriffe auf Syrien intensivierte – offiziell um die Drusen zu schützen. Israel präsentiert sich als Schutzmacht der Drusen in der Region – die in Israel lebenden Drusen gelten dort als »Vorzeigeminderheit«, die sich freiwillig in der israelischen Armee engagiert. In diesem Kontext rief Al-Hidschri in einem Interview mit der Washington Post am 10. Mai 2025 zu einer internationalen Intervention in Suweida auf. Israel sei nicht der Feind und Syrer sollen sich um syrische Angelegenheiten kümmern – also nicht um Palästina. Al-Hidschri positioniert sich seitdem offen als Verbündeter Israels und sah sich in seiner antagonistischen Position zu Al-Scharaa bestätigt.

Al-Hidschri wählt den Weg der Eskalation

Am Abend des 12. Juli flammte der Konflikt erneut auf. Der drusische Bauer Fadlallah Duwara aus dem Dorf Ariqa wurde überfallen und sein Kleinlaster voller Gemüse gestohlen. Daraufhin entführten bewaffnete Familienmitglieder des Opfers in Suweida wahllos fünf Beduinen. Nach Rückgabe des Diebesgutes werde man sie freilassen, so die Entführer. Dies führte wiederum dazu, dass bewaffnete Familienmitglieder der Geiseln wahllos 13 Drusen in Suweida entführten, um sie gegen die entführten Beduinen auszutauschen. Die beiden drusischen Scheikhs, Dscharbo und Al-Hanawi sowie der lokale Scheikh der Beduinen, Aqbah Mohammad al-Baddah, verhandelten frühzeitig um eine Freilassung der Geiseln zu erreichen, doch Al-Hidschri ging einen anderen Weg.

Drusische Milizen, die loyal zu Al-Hidschri stehen, kesselten das Beduinenviertel Maqwas in Suweida ein und eröffneten das Feuer. Die Beduinen riefen die Regierung um Hilfe und das Chaos nahm seinen Lauf. Eine Mischung aus Regierungstruppen, die sich zeitweise aus Suweida zurückzogen, lokalen und überregionalen Beduinenmilizen und islamistischen Gruppen griffen auf Seiten der sunnitischen Beduinen ein, woraufhin Israel abermals intensive Bombenangriffe zur Unterstützung Al-Hidschri flog.

Außerdem überquerten etwa 1 000 israelische Drusen die Grenze nach Syrien – ihre genaue Rolle im Konflikt und ob sie an der Seite Al-Hidschri kämpften, ist noch vollkommen unklar, auch, ob Soldaten der israelischen Armee unter ihnen sind, die zuvor am Völkermord in Gaza beteiligt waren. Derweil ruft der Scheikh der israelischen Drusen dazu auf, sich den Kämpfern in Suweida anzuschließen. Israel solle, so Scheikh Tarif, eine Militärkampagne im Süden Syriens führen, um die Drusen zu befreien. Währenddessen lieferte Israel bereits Hilfsgüter nach Suweida, offiziell ausschließlich medizinische Güter.

Die Lage in Suweida ist äußerst undurchsichtig. Die unterschiedlichen Lager bezichtigen sich gegenseitig, Massaker an Zivilisten verübt zu haben. Ein Beispiel ist das Massaker im staatlichen Krankenhaus in Suweida. Ersten Meldungen zufolge wurde das Massaker Al-Hidschri Milizen angelastet, in einem BBC-Beitrag wiederum regierungsnahen Truppen. Mittlerweile sind die Opfer beerdigt, eine gerichtsmedizinische Untersuchung oder Dokumentation habe nicht stattgefunden. Genauere Informationen zur Täterschaft werden womöglich im Dunkeln bleiben.

Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenreche soll der Großteil der Kriegsverbrechen von regierungsnahen Truppen an drusischen Zivilist*innen verübt worden sein, wobei die Zahlen nicht überprüft werden können. Unzählige Videos kursieren im Netz, teils gefälscht, teils echt. Ein besonders virales Video zeigt die Exekution eines unbewaffneten Drusen, durch einen islamistischen Milizionär. Auf die Frage, ob er Muslim oder Druse sei, antwortete er laut: »Ich bin Syrer.« Der Schütze fragt: »Was soll Syrer heißen, bist du Muslim oder Druse?« Als dieser letztlich mit »Druse« antwortete, wird er erschossen. In Bezug auf besagtes Video trenden die Hashtags »I´m Syrian« und »What does Syrian mean« auf »X«.

Die berichteten Massaker drängten auch die »Männer in Würde« an die Seite Al-Hidschri, den sie sonst kritisieren und Kämpfer befreundeter Stämme an die Seite der lokalen Beduinen. Es gibt jedoch auch mehrere Berichte, wonach die Milizen unter Hijri ebenfalls Massaker an Zivilisten und Gefangenen verübten und Beduinen aus Suweida vertrieben haben sollen.

Gleichzeitig ist dieser Konflikt eingebettet in ein Meer aus Desinformation und einseitigen Berichten der jeweiligen Fraktionen. Al-Hidschri Reaktion auf den Waffenstillstand vom 16. Juli ist jedoch gut dokumentiert. Nach Verhandlungen der Regierung mit Scheikhs der Beduinen und dem drusischen Scheikh Dscharbo, einigte man sich auf die Freilassung aller Geiseln, Installation von Security Checkpoints in Suweida durch Regierungstruppen und die volle Integration der Provinz in den syrischen Staat.

Al-Hidschri rief daraufhin in einer Erklärung alle Drusen dazu auf, »den kriminellen bewaffneten Terrorbanden weiter entgegenzutreten, die gekommen sind, um unser Volk zu verwüsten und unsere Existenz zu vernichten.« Al-Hidschri ging in seinem Aufruf sogar so weit, zu versichern, dass »es keine Vereinbarung, Verhandlung oder Genehmigung mit diesen bewaffneten Banden gibt, die sich fälschlicherweise als Regierung bezeichnen.« Im Gegenteil warnte der Scheikh, dass jeder der mit Damaskus Verhandlungen aufnehme, »ohne Ausnahme oder Nachsicht rechtlich und sozial zur Verantwortung gezogen wird.«

Nach dem chaotischen Hin und Her der unterschiedlichen Akteure vor Ort, wurden über 1 500 als Geiseln genommene Beduinen aus Suweida in Bussen evakuiert und ein Konvoi mit Hilfgütern vom Roten Halbmond nach anfänglicher Intervention Al-Hidschri, schließlich ohne Regierungsdelegation nach Suweida gelassen. Der neue Waffenstillstand vom 23. Juli unter der Schirmherrschaft Damaskus, Jordanines und den USA scheint bisher zu halten.

Welche Rolle Al-Hidschri wirklich in diesem Konflikt spielt, wird wohl erst in Zukunft nachweisbar sein. Je nach Fraktion stehen Al-Hidschri unterschiedliche Rollen zu: Als weitsichtiger Zweifler an den falschen Versprechungen aus Damaskus und kompromissloser Verteidiger der Drusen gegen sunnitischen Terror – oder als machtgieriger Separatisten-Warlord, der die Autonomie Suweidas möglicherweise gar als Preis für die Legitimierung einer potenziellen weiteren Expansion Israels im Süden Syriens erkaufte. Nur eins ist sicher: Al-Hidschri ist Hardliner und trat nach Jahren der Kollaboration mit Assad stets als Akteur der Eskalation auf.

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