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Bürgerkrieg in Syrien ist nicht vom Tisch
Die Kämpfe in Al-Suweida zeigen das Konfliktpotenzial im Vielvölkerstaat
Die Kämpfe in der syrischen Provinz Al-Suweida haben die USA aufgeschreckt. In Washington hat man erkannt, dass die Angriffe auf die Minderheiten der Alawiten und Drusen das Potenzial haben, einen neuen Bürgerkrieg zu entfachen. Jegliches Machtvakuum im Land würde aus der Provinz ein Aufmarschgebiet von radikalen Gruppen aus der gesamten Region gegen Israel machen.
Am Freitag beschlossen israelische und syrische Verhandlungsdelegationen unter dem Druck US-amerikanischer Diplomaten eine Kompromisslösung für den Süden Syriens. Demnach garantiert Washington die Sicherheit der Bewohner von Suweida nach dem vollständigen Abzug beduinischer Milizen und sunnitischer Stammeskämpfer. Syrische Regierungsbeamte dürfen die Stadt nicht betreten, in den von Islamisten dominierten Städten Daraa und Quneitra sind nur noch leichte Waffen erlaubt. In Suweida hat der diplomatische Durchbruch keine Jubelschreie ausgelöst. Es wird diskutiert, was zu tun ist, sollte das Abkommen von radikalen Gruppierungen gebrochen werden. So wie in der vergangenen Woche mit den schweren Kämpfen.
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Suwaida wirft einen Schatten voraus
Inzwischen ist in der Suweida-Provinz wieder Ruhe eingekehrt. Die Einheiten der Allianz der islamistischen Bewegung Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) von Syriens Übergangspräsidenten Ahmad Al-Scharaa und mehrere Hundert Freiwillige aus verschiedenen Städten sind in Richtung Damaskus abgezogen. Zwischen den Konvois von Toyota-Pick-ups mit aufmontierten Maschinengewehren und mit Schlamm getarnten Privatwagen befanden sich Lastwagen mit Plündergut. Ihr Versuch, das im Süden an Jordanien und im Westen an Israel grenzende Gebiet dauerhaft zu kontrollieren, ist gescheitert. Israelische Kampfflugzeuge und über die Grenze eingesickerte drusische Spezialeinheiten der israelischen Armee hatten Al-Scharaa dazu bewogen, einen Kompromiss einzugehen. Dennoch wird die nur wenige Tage andauernde Besatzung die Zukunft Syriens erheblich beeinflussen.
Bis zu 1500 Zivilisten sollen nach Quellen aus der Stadtverwaltung Al-Suweida bei Massenerschießungen und Kämpfen in der Provinz ums Leben gekommen sein, aber es werden noch weit mehr Opfer befürchtet, weil viele Menschen noch als vermisst gelten. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR), die in London ansässig ist, sich aber nach eigenen Angaben auf Informanten vor Ort stützen kann, berichtet von weitaus geringeren Zahlen getöteter Zivilisten. Demnach sollen bei der rund eine Woche andauernden Gewalteskalation insgesamt 1386 Menschen ums Leben gekommen sein: 657 aus Al-Suweida, darunter 124 Zivilisten; 429 Angehörige des syrischen Verteidigungsministeriums und der allgemeinen Sicherheitskräfte; 40 Beduinenkämpfer aus Al-Suweida. 238 Menschen, darunter 30 Frauen, acht Kinder und ein älterer Mann, seien von Angehörigen des syrischen Verteidigungs- und Innenministeriums außergerichtlich hingerichtet worden.
Erst während der zahlreichen Beerdigungen der vergangenen Woche wurde vielen Menschen in der 74 000-Einwohnerstadt das Ausmaß der Verbrechen klar. Zunächst schienen Massaker wie die kaltblütigen Morde an Ärzten und Patienten von ultraradikalen Gruppierungen verübt worden zu sein. Im städtischen Krankenhaus war jeder erschossen worden, der oder die sich als Druse zu erkennen gab. Doch Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten aus Suweida berichten, dass Menschen überall in der Stadt in ähnlicher Weise an Ort und Stelle hingerichtet wurden.
In den von den Tätern gemachten Videoaufnahmen von der Erschießung mehrerer junger Drusen auf dem zentralen »Tischrin-Platz« sind Angehörige des Verteidigungsministeriums zu sehen. »An der ersten und wenige Tage später gestarteten zweiten Angriffswelle waren Offiziere beteiligt, die Al-Scharaa nahestehen«, behauptet ein drusischer Lokalpolitiker gegenüber »nd« am Telefon. »Damit stellt sich für uns die Frage, ob Drusen, Alawiten, Christen und Kurden in Syrien ihre Sicherheit eigenständig organisieren müssen.«
Diese Frage hatten drusische Milizen im Süden Syriens bereits nach dem Sturz von Baschar Al-Assad im vergangenen November eindeutig beantwortet. Sie horteten Waffen und Munition aus den Beständen der syrischen Armee. Beduinen-Milizen fanden bei ihrem Sturm auf Suweida angeblich auch von Israel gelieferte Panzerfäuste. Das enge Verhältnis zu den in Israel lebenden Drusen und die von Israels Premier Benjamin Netanjahu vorgenommene einseitige Ausrufung einer südlich von Damaskus beginnenden demilitarisierten Zone hat die islamistische Szene Syriens gegen die Drusen aufgebracht.
Mit ihren auf sozialen Medien offen geäußerten Auslöschungsfantasien mobilisierten sie Tausende junge Sunniten aus dem ganzen Land, die sich dem Konvoi anschlossen. Mit ihren Mobiltelefonen filmten sie ganz unverblümt die Morde an Zivilisten, denen sie in Suweida zufällig begegneten oder in deren Wohnungen sie eindrangen. Vor den Enthauptungen oder Erschießungen schnitten sie den Männern mit einer Schere die Bärte ab. Die als Demütigung gedachte Geste hat sich zumindest in symbolischer Form auch unter den in Europa lebenden Syrern verbreitet. Auf einer Demonstration in Düsseldorf zeigten viele Anhänger von Ahmad Al-Scharaa Scheren und beschimpften die Drusen.
»Seine Präsidentschaft beginnt blutiger als die der Assad-Familie«, sagt ein politischer Aktivist aus Damaskus. Seinen Namen will er nicht neben kritischen Sätzen über die neuen Machthaber abgedruckt sehen. »In den ersten Jahren der Assad-Diktatur kam man für kritische Äußerungen noch mit kurzen Gefängnisstrafen davon. Die in Damaskus an die Macht gelangten Dschihadisten in den Reihen der HTS-Allianz haben im Krieg gelernt, mit jeglichem Gegner kurzen Prozess zu machen.«
Bei den Minderheiten geht die Angst um
Nicht nur unter Drusen, auch unter Exilsyrern und der syrischen Zivilgesellschaft herrscht seit den Massakern von Suweida Angst. Sie kritisieren, dass sämtliche Posten in Ministerien, der Armee und Verwaltung an Anhänger der HTS-Allianz gehen, die sich in den vergangenen Jahren des Widerstandskampfes in der Enklave Idlib offenbar nur nach außen moderat gegeben hat. So hat sich Al-Scharaa zum Partner der internationalen Gemeinschaft gemacht, doch nach der Gewalt in Suweida wird unter Drusen und Kurden immer lauter über eine militärische Allianz nachgedacht.
Mohammad, ein ehemaliger Armee-Offizier, war mit seiner Familie nach Deutschland geflohen. Vergangene Woche stellte er sich zusammen mit 40 anderen im Verteidigungsministerium vor. Wie viele im Exil lebende Assad-Gegner will der 45-Jährige am liebsten zurück nach Damaskus ziehen. »Doch die dort nun tonangebenden Salafisten lachten uns nur aus und sagten, ich solle in Deutschland bleiben. Die Morde in Suweida bezeichneten sie als Beweis ihrer Stärke.« Für Syriens Zukunft verheißt das nichts Gutes.
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