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Menschenrechtler: Die Ukraine ist ein Experimentierfeld
Maxym Butkewytsch über seine russische Kriegsgefangenschaft und die Ukraine in Zeiten des Krieges
Herr Butkewytsch, Mitte Oktober 2024 kamen Sie nach mehr als zwei Jahren in russischer Haft dank eines Gefangenenaustauschs frei. Hat die Haftzeit bleibende Spuren hinterlassen?
Gleich zu Beginn des Rehabilitationsprogramms, das alle ehemaligen Kriegsgefangenen durchlaufen, wurden wir vorgewarnt, dass die schwierige Phase erst später beginnt. Die ersten Monate waren für mich tatsächlich leichter als das, was danach kam. Ich träume heute von der Haftzeit, seltener vom Krieg. Bei mir wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, aber das trifft auf das halbe Land zu.
Wie wirkt sich diese Erfahrung darauf aus, was Sie jetzt tun?
Ich habe überlegt, wie ich mich am besten nützlich machen kann, und bin zur Menschenrechtsarbeit zurückgekehrt. Wir haben eine neue Organisation mit dem Namen Prinzip Hoffnung gegründet. In unserem ersten Projekt wollen wir aus russischer Gefangenschaft befreiten Militärangehörigen und Zivilisten helfen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. In meiner Abwesenheit hat sich sehr vieles verändert. Was zu Friedenszeiten funktioniert hat, ist im Krieg obsolet geworden. Dafür sind andere Instrumentarien hinzugekommen.
Maxym Butkewytsch ist ein ukrainischer Menschenrechtler und Journalist. Während seines Studiums an der Kiewer Schewtschenko-Universität war der 48-Jährige in linken, anarchistischen und demokratischen Gruppen aktiv. Butkewytsch galt als Pazifist und Antiglobalist. 2008 gründete er mehrere Zentren, die Migranten und Opfer von Hassgewalt unterstützen. Am 24. Februar 2022, dem Tag der russischen Invasion, meldete sich Butkewytsch freiwillig zur ukrainischen Armee und geriet nach vier Monaten in russische Gefangenschaft. Im März 2023 verurteilte ihn ein Gericht in Luhansk zu einer langen Haftstrafe für ein Verbrechen, das er nachweislich nicht begangen haben kann. Am 18. Oktober 2024 kam Butkewytsch im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei.
Was genau meinen Sie damit?
Unter Kriegsbedingungen laufen Entscheidungsfindungsprozesse zwangsläufig zentralisiert ab. Ich hatte die Befürchtung, dass das auf ein halbautoritäres System hinausläuft, bis jetzt hat es aber zum Glück nicht den Anschein. Staatliche Stellen gehen sehr sorgsam mit zivilen Initiativen um, weil das Verteidigungssystem auf sie angewiesen ist. Zudem arbeiten viele Menschen aus NGOs und Graswurzelinitiativen mittlerweile in den Behörden.
Trotzdem hat der Krieg Auswirkungen auf die gesellschaftliche Ordnung und politische Abläufe. Wahlen können nicht stattfinden. Das klingt nach Widerspruch. Wie gehen Sie damit um?
Das fällt uns allen schwer. Wahlen durchzuführen geht schon deshalb nicht, weil viele Stimmen nicht berücksichtigt werden könnten – vor allem die aus den von Russland besetzten Gebieten. Aber ohne sie wäre das nicht repräsentativ. Das Demonstrationsrecht ist eingeschränkt. In den Medien findet sich ein breites Meinungsspektrum mit Ausnahme von prorussischen Statements. Über innenpolitische Fragen wird hingegen äußerst kontrovers debattiert. Die Behörden lassen sich auf vieles ein, manchmal zähneknirschend.
Menschen mit linken politischen Überzeugungen wie Sie sollten ja prinzipiell gegenüber institutionalisierten staatlichen Machtstrukturen kritisch eingestellt sein. Ist das unter Kriegsbedingungen komplizierter geworden?
Als Mensch mit linken antiautoritären Überzeugungen möchte ich betonen: Es klappt, aber aus meinem Umfeld höre ich schon, dass Selbstzensur im Krieg ein Thema ist. Das passiert, wenn man begreift, dass der Versuch, auf einer sofortigen Lösung zu beharren, nur dazu führt, dass die eigene Position vom Aggressorstaat ausgenutzt wird.
Haben Sie Beispiele für Selbstzensur?
Die Gesellschaft will Gerechtigkeit bei der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern, gleichzeitig aber auch explizit soziale Gerechtigkeit. Macht sich eine Gruppe für die Nationalisierung stark, steht das im Widerspruch zum Bestreben des Staates, ausländische Investitionen für die Wirtschaft anzulocken. Das könnte die Verteidigungsfähigkeit beeinträchtigen. Eine kleine Minderheit hielt die Pride für unangebracht, aber weil LGBTIQ+ an der Front kämpfen, erhält solche Kritik keinen Raum. Gleiches gilt für das Thema Restriktionen in der Migrationspolitik. Das trifft also sogar auf rechtsradikale Gruppierungen mit ihrem ethnischen Nationalismus zu, denn Menschen ohne ukrainischen Hintergrund haben für die Ukraine mehr getan als viele Ukrainer. Die Erkenntnis von Diversität, wie sie insbesondere an der Front deutlich wird, engt die Möglichkeiten für diskriminierende politische Ansätze ein.
Nun wurden viele schon vor langer Zeit eingezogen oder haben sich freiwillig gemeldet. Eine andere Frage ist, wie die Mobilmachung gegenwärtig abläuft.
Schwer zu sagen. Über die Mobilmachung wird öffentlich viel diskutiert, Experten, solange sie nicht der Opposition angehören, üben sich in Zurückhaltung. Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit sich der Notwendigkeit der Mobilmachung bewusst ist, auf einem anderen Blatt steht, ob eine konkrete Person dafür die Kraft aufbringt. Es gibt aber heftige Kritik am Staat über die Vorgehensweise.
Doch die Praxis bleibt unverändert.
Nein, nicht ganz. Ich selbst habe in Kiew kein einziges Mal gesehen, wie jemand zwangsweise eingezogen wurde, auch wenn ich weiß, dass es das gibt, auch unter Bekannten von mir. Bei Auslandsreisen bekam ich den Eindruck, es werde regelrecht Jagd auf Wehrpflichtige betrieben; Social Media bildet aber nicht die Realität ab, sondern zeigt nur die heftigsten Szenen. Mittlerweile wurde ein Regierungsbeauftragter eingesetzt. Trotzdem gibt es nach wie vor systembedingte Probleme in Sachen Vermittlung und Abläufen bei der Mobilmachung.
Die Linke fordert einen »gerechten Frieden«, mehr diplomatische Bemühungen und die Gründung eines Antikriegsbündnisses unter Einbeziehung von Ländern der Europäischen Union, Chinas, Brasiliens und weiterer Staaten des globalen Südens. Wie realistisch erscheint Ihnen das?
Bei allem Respekt, aber einige Vorschläge sind schlichtweg naiv. Andere stellen sogar einen verdeckten Aufruf zur Kapitulation der Ukraine dar. Eigentlich existiert ja schon ein Antikriegsbündnis, aber tatsächlich ist der globale Süden dort kaum vertreten. Meinem Verständnis nach ist ein Antikriegsbündnis eine Vereinigung mit dem Ziel, einen Krieg zu beenden. Zu Verhandlungen ist die Ukraine bereit, aber die letzten Gespräche in Istanbul haben gezeigt, dass die russische Seite ultimativ eine Kapitulation fordert. Verhandlungen sehen anders aus. Ein Antikriegsbündnis bedeutet, der Ukraine als angegriffenem Land, das sich zur Wehr setzt, zum Sieg zu verhelfen. Weitreichende Zugeständnisse und Gebietsabtretungen mit dem Versprechen, dass Russland nicht mehr angreift, sind kein Friedensangebot. Das kommt einem Freibrief gleich, den Krieg später fortzusetzen. Die Ukraine braucht Friedensverhandlungen, aber ein anhaltender Frieden ist nur möglich mit konkreten, schnell realisierbaren Sicherheitsgarantien.
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Viele Linke in Deutschland sind gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aus Angst vor einem neuen Wettrüsten. Die Verteidigungsausgaben in Deutschland sind jetzt schon hoch.
Russland hat das Wettrüsten bereits begonnen und auf Kriegswirtschaft umgestellt. Wir sehen, dass die russische Führung sich nur potenziellen Gegnern gegenüber aggressiv verhält, die sie als schwach einstuft. Wäre die EU vorbereitet, wenn es zur unwahrscheinlichen Konfrontation mit Russland käme? Ich denke, nein. Wir konnten uns das auch nicht vorstellen, und ich wünsche niemandem, die gleichen Erfahrungen zu machen wie wir.
Was könnte die EU denn tun?
Im Zuge der letzten drei Jahre und mehr hat sich die Kriegsführung verändert, sie ist viel technologieorientierter geworden. Russland lernt schnell dazu, die Ukraine noch schneller, die EU gar nicht. Dabei könnte sie von der Ukraine lernen. Unser Wissen könnte für die Sicherheit der EU von großem Wert sein.
Auf Unterstützung ist die Ukraine trotzdem angewiesen.
Ohne internationale Hilfe hätten wir keinen Widerstand leisten können und könnten es auch jetzt nicht tun. Man sollte aber im Kopf behalten, dass diese Hilfe nicht nur für die Rüstung bestimmt ist, sondern für Sozialleistungen, Renten, Zahlungen an Menschen, die unter der Besatzung bleibende Gesundheitsschäden davon getragen haben. Die Unterstützung insbesondere aus der EU sorgt dafür, dass die Vitalität der ukrainischen Gesellschaft erhalten bleibt. Es geht aber auch um die Genesung von Verwundeten. In dem Bereich hat die Ukraine inzwischen mehr Expertise als jedes andere Land der Erde. Ohne es zu wollen, wurden wir gleichzeitig zum Experimentierfeld für Sicherheitsfragen. Bei uns werden neue Waffen getestet. Drohnen stellen wir selbst her.
Ein Ende des Krieges scheint nicht in Sicht. Oder sehen Sie es?
Im Moment nicht. Eine echte Option für Gespräche, um den Krieg zu beenden, ergibt sich erst, wenn die russische Führung zu dem Schluss kommt, dass sie einen zu hohen Preis für die Fortführung zu zahlen hätte. Der Krieg darf nicht nur auf Kosten der Ukraine geführt werden, sondern vermehrt auch auf Kosten Russlands. Selbst unter russischen Entscheidungsträgern gibt es jene, die froh wären, wenn dieser ganze Mist ein Ende hat. Ein ukrainischer Diplomat, der bei den Gesprächen in Istanbul dabei war, hat gesagt, Moskau wolle mit den Treffen nur weitere Sanktionen hinauszögern.
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