Exklusiv: Gutachten zeigt, Europa geht sozialer

Subventionen können laut neuem Gutachten an Tarifstandards geknüpft werden

Gewerkschaften haben in der EU mehr Mitsprachemöglichkeiten als von vielen angenommen.
Gewerkschaften haben in der EU mehr Mitsprachemöglichkeiten als von vielen angenommen.

Lange galt die neoliberale Ausrichtung der Europäischen Union als Bremse für sozialen Fortschritt. Doch das hat sich geändert, wie ein neues Rechtsgutachten des Europarechtlers Wolfram Cremer von der Universität Bochum zeigt. Demnach dürfen Mitgliedstaaten und die EU öffentliche Hilfen für Unternehmen an soziale Bedingungen knüpfen. Dazu zählen Arbeitsplatzsicherung, tarifvertragliche Standards oder der Erhalt von Standorten. Das Gutachten, das »nd« vorab einsehen konnte, wurde im Auftrag des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts (HSI) erstellt.

Entgegen weitverbreiteter Missverständnisse ist laut Rechtsexperte Cremer in den EU-Grundlagenverträgen keineswegs eine marktradikale Wirtschaftsordnung festgeschrieben. Zwar hob der Vertrag von Maastricht von 1993 noch die »offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« hervor. Doch inzwischen steht eine »in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft« im Mittelpunkt. Laut Vertrag von Lissabon, der 2009 inmitten der Finanz- und Eurokrise in Kraft trat, haben soziale Anliegen und der Schutz vor Diskriminierung deutlich an Bedeutung gewonnen.

Erste Wirkung zeigte sich bei den Hilfen während des Energiepreisschocks 2022 infolge der russischen Invasion in der Ukraine. Staatliche Gelder, etwa für Gas- und Strompreisbremsen, wurden an den Erhalt von Arbeitsplätzen gekoppelt. Ziel war es, einen wirtschaftlichen Absturz zu verhindern – zumindest vorübergehend hatte das Erfolg. Und mit dem EU-Recht war das kompatibel, erklärt Rechtswissenschaftler Cremer.

Wirtschaft unter Druck

Solche Interventionen dürften in den kommenden Jahren zunehmen. Denn die Klimakrise und die Umbrüche im Welthandel werden von einer neuen Phase der Industriepolitik begleitet. Viele Expert*innen sind sich einig: Die Verwerfungen abzufedern und die ökologische Transformation der Industrie ließen sich nur mit viel öffentlichem Geld bewältigen. »Es braucht eine Industriepolitik – nicht nur für Start-ups, sondern auch für strategische Sektoren, die unter Druck stehen«, erklärt etwa der Ökonom Sander Tordoir vom Londoner Thinktank Centre for European Reform.

Schon jetzt wird auf diese Herausforderungen mit Entlastungen für Unternehmen reagiert. Unter den Stichworten Wettbewerbsfähigkeit und Bürokratieabbau nimmt etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Berichtspflichten und Vorgaben im Bereich von Nachhaltigkeit und Menschenrechten in Lieferketten teilweise wieder zurück. Im Rahmen des Next-Generation-EU-Programms wurden Unternehmen als Reaktion auf die Corona-Pandemie mit Milliardensummen subventioniert.

Der nächste langfristige EU-Haushalt sieht erneut umfassende Investitionen für die Industrie vor. Hinzu kommen enorme Summen für Aufrüstung und Brückenstrompreise für energieintensive Industrien. Auf nationaler Ebene hat der Bundestag in der letzten Legislaturperiode die Schuldenbremse reformiert: Mit einem Sondervermögen von 500 Milliarden Euro sollen Ausgaben zur Erreichung der Klimaziele und zur Modernisierung der Infrastruktur finanziert werden. »Wir gehen jetzt das an, was jahrelang in unserem Land vernachlässigt wurde«, sagte Finanzminister Lars Klingbeil im Juni zum Regierungsentwurf für das Haushaltsgesetz 2025.

Soziale Klauseln erlaubt – und notwendig

Staatliche Investitionen und Fördermittel dürften »nicht zum Abbau von sozialen Rechten am Arbeitsplatz beitragen«, unterstreicht HSI-Direktor Ernesto Klengel zur Veröffentlichung des Gutachtens. Die aktuellen Debatten über die Finanzen des Bundes oder der EU machten deutlich, dass ein handlungsfähiger Staat zentral sei. Und das Gutachten zeigt, dass das EU-Recht großen Spielraum dafür bietet.

Der könnte bald genutzt werden. In Deutschland hat Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas zuletzt einen Entwurf für das von Gewerkschaften seit Jahren geforderte Tariftreuegesetz vorgelegt. Es verpflichtet Unternehmen, bei öffentlichen Aufträgen in Höhe von mindestens 50 000 Euro Tarifstandards einzuhalten. Cremers Gutachten bestätigt: Solche Vorgaben dürften mit dem EU-Recht vereinbar sein.

Zudem erlaubt das Beihilfenrecht gezielte Förderungen, etwa für »wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse«. Projekte wie die Transformation hin zu klimafreundlicher Produktion können so mit sozialen Auflagen verknüpft werden.

Mehr Mitsprache, kein Sozialismus

Mit Blick auf die Vergabe von EU-Finanzhilfen, etwa aus den Regional- und Kohäsionsfonds, betont die Studie die Rolle von Sozialpartnern. Diese müssten während der gesamten Laufzeit eingebunden werden. »Es sind also nicht zuletzt die Gewerkschaften, die Einfluss auf die inhaltliche Programmplanung nehmen können«, schreibt Cremer.

Trotz unterschiedlicher Interpretationen ist die Rechtslage laut Gutachten also klar: Die EU-Verträge eröffnen weitreichende Möglichkeiten, die Wirtschaft im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft zu gestalten. Eine grundlegende Abkehr vom Kapitalismus bleibt jedoch ausgeschlossen – eine ernüchternde Nachricht für alle Kräfte links der Sozialdemokratie.

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