Apps zur Altersbeschränkung schaffen kein sicheres Internet

Die EU will eine Altersverifizierung für das Internet. Doch mit Google-basierten Prüf-Apps wird der Bock zum Gärtner gemacht, meint Anne Roth

Auf der Spielemesse Gamescom testen Cosplayerinnen ein Computerspiel.
Auf der Spielemesse Gamescom testen Cosplayerinnen ein Computerspiel.

Kinderschutz im Internet ist ein Thema, bei dem mittlerweile die meisten innerlich schreiend den (virtuellen) Raum verlassen. Denn immer, wenn Sicherheitsbehörden oder konservative Politiker*innen digitale Grundrechte im Netz einschränken, muss Kinderschutz als Vorwand herhalten. Die Auseinandersetzungen um die Vorratsdatenspeicherung oder die Chatkontrolle sind nur zwei Beispiele.

Sicher: Von Cyber-Mobbing und der unerwünschten Kontaktaufnahme durch Erwachsene bis zu den Auswirkungen von Influencer-Aktivitäten und der Darstellung als Sexualobjekte gibt es viel, wovor Kinder und Jugendliche geschützt werden müssen und wollen. Doch es wird viel mehr darüber geredet, wie Kindern und Jugendlichen der Zugang zu gefährlichen Inhalten verwehrt werden kann, als darüber, wie eine digitale Welt gestaltet sein müsste, die für alle ein angenehmerer Ort wäre.

Und so geht es viel um Verbote von Smartphones in Schulen und um technische Methoden, um das Alter derjenigen festzustellen, die im Netz unterwegs sind. Dabei müsste eigentlich allen klar sein, dass Verbote eher neugierig machen und den Ehrgeiz wecken, sie zu umgehen. Wenn Kindern und Jugendlichen im Netz dann allerdings Dinge begegnen, die traumatisierend oder gefährlich sind, wird es für sie viel schwerer, sich Hilfe zu holen, weil das Ganze ja verboten war und sie Bestrafung befürchten müssen. Das unterscheidet sich im Prinzip nicht von anderen gefährlichen Situationen. Verbote bewirken oft das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen

Anne Roth

Anne Roth gehört zu den Pionierinnen linker Netzpolitik. Für »nd« schreibt sie jeden ersten Montag im Monat über digitale Grundrechte und feministische Perspektiven auf Technik.

Technische Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass bestimmte Inhalte oder Apps erst ab 18 zugänglich sind, werden verstärkt diskutiert, seit das europäische Plattformgesetz(Digital Services Act) explizit vorschreibt, dass »Anbieter von Online-Plattformen, die für Minderjährige zugänglich sind, [...] geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen ergreifen [müssen], um für ein hohes Maß an Privatsphäre, Sicherheit und Schutz von Minderjährigen innerhalb ihres Dienstes zu sorgen«.

Das klingt zunächst durchaus vernünftig. Um aber Minderjährigen Privatsphäre und Sicherheit bieten zu können, müssen die Plattformen wissen, dass es sich um Minderjährige handelt, und da fängt das Problem an.

Altersverifikation im Netz ist ein Milliardengeschäft

Auch im Jugendschutz, im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag und selbst in der Datenschutz-Grundverordnung gibt es Altersgrenzen. Verpflichtend ist die Überprüfung des Alters bislang aber nur in wenigen Fällen, nämlich wenn es um Pornographie, Glücksspiel oder Verkauf von Tabak und Alkohol geht. In mehreren Ländern werden aktuell harsche Grenzen gesetzt. In Großbritannien ist gerade der »Online Safety Act« in Kraft getreten, der Altersverifizierung zwingend vorschreibt. Die britische Bürgerrechts-NGO »Open Rights Group« kritisierte umgehend, dass auf zweifelhafte Anbieter zurückgegriffen werde und die Nutzung von Umgehungssoftware ansteigt. Ebenfalls Ende Juli kündigte Australien an, Kindern und Jugendlichen bis 16 Jahre die Nutzung von Youtube komplett zu verbieten.

Die EU macht den Bock zum Gärtner, wenn die Unternehmen, deren Profitinteresse das Netz so gefährlich gemacht hat, die Kontrolle darüber bekommen, wer es benutzen kann.

Die EU hat nun im Juli »Leitlinien zum Schutz Minderjähriger« sowie den Prototyp einer App zur Altersüberprüfung vorgestellt, getreu dem Motto: Wenn Politik nicht weiter weiß, gibt’s eine App. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass damit hervorragend Geld verdient werden kann. Ein im Juni vom Kinderschutzbund und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen veröffentlichtes »Grundsatzpapier zur Altersfeststellung im Netz« hält fest: »Die Altersverifikationsindustrie hat sich zu einem Milliardengeschäft entwickelt und es bleibt kritisch zu evaluieren, inwiefern Altersfeststellung die Sicherheit im Internet verbessert.«

Der Fokus auf die Feststellung des Alters der Nutzer*innen ignoriert, dass ein nicht geringer Teil der Gefahren für Minderjährige im Netz damit nicht verhindert werden kann. Online-Mobbing, Hass im Netz oder Grooming, also die Kontaktaufnahme von Erwachsenen mit dem Ziel der sexualisierten Gewalt, sind einige Beispiele.

Auch Kinder haben ein Recht auf Anonymität

Das Grundsatzpapier von Kinderschutzbund und anderen NGOs betont, dass Grundprinzipien wie Datensicherheit und Datenminimierung unbedingt gewahrt bleiben müssen und Anonymität und Unbeobachtbarkeit ebenfalls unverhandelbare Kinderrechte sind. Das macht die Sache komplexer, denn so ist es keine Option, an jeder virtuellen Ecke den (digitalen) Personalausweis vorzuzeigen – ganz abgesehen davon, dass Kinder ja noch keinen haben. Gäben wir allen Plattformen und Online-Dienstleistern alle Informationen, die ein digitaler Ausweis enthält, wüssten die Unternehmen in kürzester Zeit alles über uns. Der Unterschied zu der Situation an der Supermarktkasse mit Anfang 20: Online wird alles vollständig gespeichert, in Personenprofilen zusammengeführt und ist jederzeit abrufbar.

Aus der Zeit der Pandemie wissen wir, dass die meisten Menschen sich wenig Gedanken über ihre digitale Privatsphäre machen, wenn sie per QR-Code jedem beliebigen Kneipenwirt Identitätsdaten übermitteln sollen. Die Konsequenzen waren nicht direkt spürbar, wenn Identitätsdaten so freigebig verteilt wurden, aber andererseits nervte es schon sehr, wenn der Einlass verweigert wurde, weil wir das nicht mitmachen wollten. Dasselbe wird vermutlich passieren, wenn per App das Alter dokumentiert werden soll, um online zu shoppen, Nachrichten oder Videos zu sehen. Auch jetzt müssen dafür oft Daten angegeben werden, aber bisher prüft niemand, ob die tatsächlich stimmen.

Aber es ging doch nur um die Kinder? Ja, aber wenn zum Kinderschutz das Alter überprüft werden muss, dann müssen natürlich alle demonstrieren, wie alt sie sind.

Deswegen sind die Diskussionen über die Umsetzung von Altersverifizierung und allgemeiner digitale Identitäten gerade an einem entscheidenden Punkt. Wenn EU und ihre Mitglieder jetzt Unternehmen überlassen, Lösungen zu entwickeln, sind weder Kinder- noch allgemeine Grundrechte deren Interesse. Zu sehen ist das ganz aktuell bei der Entwicklung der offiziellen EU-App. Den Zuschlag dafür hat das schwedische Unternehmen Scytales zusammen mit T-Systems bekommen. Vor zwei Wochen wurde bekannt, dass eine Voraussetzung für das Funktionieren der geplanten App die Nutzung einer Google- oder Apple-Komponente ist. Das würde alle ausschließen, auf deren Smartphones andere als deren Betriebssysteme laufen. Das betrifft relativ wenig Menschen, aber würde diese App für die verpflichtende Altersverifizierung erforderlich, dann wären sie praktisch vom Internet ausgeschlossen. Die EU würden also per Gesetz erzwingen, dass Google oder Apple dazwischen geschaltet sind, wenn wir uns online ausweisen.

Kinder brauchen Unterstützung statt Apps

Der italienische Entwickler Fabio Manganiello schrieb perplex dazu: »EU-Vertreter*innen haben in den letzten Jahren (zu Recht) viel über digitale Souveränität, technologische Unabhängigkeit von amerikanischen Tech-Giganten und die Unterstützung von Open Source gesprochen. Und was tun sie dann, als sie mit der Entwicklung einer institutionellen App zur Altersüberprüfung beauftragt werden? Sie delegieren den gesamten Prozess an ein amerikanisches Tech-Unternehmen, von dem sie sich eigentlich unabhängig machen wollten.«

Die EU macht den Bock zum Gärtner, wenn die Unternehmen, deren Profitinteresse das Netz so gefährlich gemacht hat, die Kontrolle darüber bekommen, wer es benutzen kann.

Die Gefahren im Netz für Kinder wie im Übrigen auch für Erwachsene sind vielfältig. Bei Weitem nicht alle können durch Altersbegrenzungsmechanismen gestoppt werden. Kinder brauchen Aufklärung und Medienbildung, sie brauchen Selbstbewusstsein, um ihre eigenen Grenzen zu erkennen und sie müssen wissen, wo sie Hilfe bekommen, wenn sie sie brauchen. Sie – wie auch Erwachsene – müssen lernen, wann ihr eigenes Verhalten im Netz für andere gefährlich wird. Die Unternehmen, deren Plattformen und Algorithmen dafür die Mittel bereitstellen und die damit viel Geld verdienen, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Die schlechteste Lösung ist, sie für die Apps, die sie als Lösung des Problems anbieten, auch noch zu bezahlen. Dafür gibt es übrigens mittlerweile einen eigenen Begriff: Tech-Solutionismus. Das ist die Vorstellung, gesellschaftliche Probleme ließen sich mit Apps lösen. Beim Kinderschutz ganz offensichtlich nicht.

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