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Ratten in Berlin: Die graue Eminenz der Hauptstadt
Eine Stadt ringt mit ihrem Rattenproblem. Doch die Giftköder schaden anderen Tieren
Sie huschen über Bürgersteige, wimmeln in Büschen und Sträuchern von Parkanlagen oder liegen tot und aufgeplatzt auf der Straße: Ratten in Berlin. In den belebten Innenstadtbezirken begegnet man ihnen häufiger als am Rand der Stadt. Und auch wenn der Mensch seit Jahrhunderten in Gemeinschaft mit dem Nager lebt, hat er sich an das Tier nicht gewöhnt. Anders als der herumtrottende Fuchs oder der durch die Gartenhecke mümmelnde Igel, lösen Ratten, die unsere Wege kreuzen, weniger Neugier und »Ach Gottchen«-Reaktionen als vielmehr Unwohlsein und Ekel aus.
Das mag auch daran liegen, dass das Tier im Verlauf der westlichen Geschichte mit allerlei Katastrophen in Verbindung gebracht wurde. Nicht zuletzt wurde der Ratte eine zentrale Rolle bei der Verbreitung der Pest zugeschrieben – eine Behauptung, die durch jüngste Studien infrage gestellt wird. Umgekehrt ging der Begriff Ratte in den Sprachkatalog ein, aus dem man sich bedient, um metaphorisch Ablehnung zum Ausdruck zu bringen – von der Diffamierung der SPD durch Reichskanzler Bismarck bis hin zur antisemitischen Propaganda im Nationalsozialismus.
Aber das Tier kann tatsächlich Probleme mit sich bringen. Denn obwohl Ratten als Versuchstiere unumstritten zum medizinischen Fortschritt beigetragen haben, nehmen sie selbst Krankheitserreger auf wie ein Schwamm – besonders vom Menschen.
Wie das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) mitteilt, zählen hierzu unter anderen Salmonellen, Leptospiren und Toxoplasmen, die Ratten auf Lebensmittel der Menschen übertragen können. Auch an der Ausbreitung von Tierseuchen seien Ratten häufig beteiligt. Darüber hinaus geben sie multiresistente Erreger weiter. »Allerdings wissen wir wenig darüber, wie sich die Übertragungen tatsächlich darstellen, so ist es schwer nachzuvollziehen, wie groß das Ansteckungsrisiko im Einzelnen ist«, sagt Anke Geduhn. Sie kontrolliert für das Umweltbundesamt auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes die Wirksamkeit von Mitteln und Verfahren der Schädlingsbekämpfung. Haus- und Wanderratten werden in der Berliner »Verordnung über die Bekämpfung von Gesundheitsschädlingen« als Gesundheitsschädlinge bestimmt.
Während wir zur heißen Jahreszeit weiter im Büro schwitzen und das Parlament in den Ferien ist, tapst und kratzt und raschelt und flattert die Berliner Tierwelt wie gewohnt durch die Stadt. Wir nehmen uns von Woche zu Woche ein Berliner Wildtier vor. Jeden Dienstag vom 15. Juli bis zum 2. September erwarten Sie an dieser Stelle spannende Geschichten aus dem Großstadtdschungel!
Die zahlenmäßige Entwicklung der Rattenpopulationen wird in Berlin, wie auch in anderen Großstädten, nicht erfasst. Daten gibt es nur zu den Bekämpfungsmaßnahmen: Seit 2020 schwanken die Zahlen zwischen 7000 und 8500 pro Jahr. Vor der Corona-Pandemie wurden mehr als 10 000 Maßnahmen durchgeführt. Wie das Lageso mitteilt, können daraus aber »keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Rattenpopulation in Berlin gezogen werden«. Auch lasse sich aus den Daten kein Trend ableiten.
Allerdings würden eine hohe Bevölkerungsdichte und auch die durch den Klimawandel steigenden Temperaturen das Populationswachstum von Ratten in Städten begünstigen: »Der Klimawandel sorgt durch wärmere Temperaturen für längere Aktivitätsperioden im Jahr, insbesondere im Frühling und Herbst und ermöglicht es den Ratten so, sich über einen längeren Zeitraum fortzupflanzen«, teilt das Lageso mit.
Pro Jahr kann eine Rättin nach der Paarung mit einem Rattenbock bis zu sechsmal acht Junge werfen. Die sind bereits nach zwei Wochen selbst geschlechtsreif. So kommen auf eine Ratte im Schnitt jährlich 500 Nachkommen. Klar sei, sagt Anke Geduhn vom Umweltbundesamt, dass das Ansteckungsrisiko mit dem Kontakt zwischen Mensch und Tier zunimmt. Daher sollten Maßnahmen diesen Kontakt verringern. Das Infektionsschutzgesetz sieht eine Meldepflicht für Ratten vor. Die bezirklichen Gesundheitsämter leiten daraufhin Maßnahmen ein.
Die bisher dominierende Methode zur Rattenbekämpfung sind antikoagulante Giftköder, sogenannte Rodentiziden. Die Wirkstoffe hemmen die Blutgerinnung, wodurch die Tiere langsam und qualvoll verbluten. Doch die Substanzen wirken nicht nur auf Ratten, sondern auf fast alle anderen Wirbeltiere, sagt Geduhn. Aktuell erforscht sie die Auswirkungen der Giftköder auf die Umwelt. »Ein Uhu etwa, der eine vergiftete Ratte frisst, kann sich ebenfalls vergiften. Bei etlichen weiteren Nicht-Zielorganismen wurden Rückstände von Rattengift festgestellt: bei Füchsen, aber auch bei Fischen und deren Prädatoren wie etwa Fischottern«, sagt Geduhn.
In der EU sei das Rattengift daher eigentlich nicht zulassungsfähig. »Da es bisher aber keine guten beziehungsweise in der Breite gut wirkende Bekämpfungsalternativen gegen Ratten gibt und die Schäden für den Menschen durch Nichtanwendung größer eingeschätzt werden, dürfen sie in einem gewissen Rahmen verwendet werden.«
Viel wichtiger als die symptomatische Bekämpfung sei für das »Rattenmanagement« die Prävention, also die Beseitigung der Ursachen für die Ausbreitung, sagt Geduhn. »Ich muss dafür sorgen, dass Futter für die Ratten möglichst unerreichbar ist.« Hierfür sei ein gutes Müllmanagement entscheidend. Außerdem sei die Ratte auf Rückzugsorte angewiesen, in denen sie ihr Nest bauen kann. »In einem aufgeräumten Hinterhof mit einer sanierten Kanalisation hätte es die Ratte schwieriger«, sagt Geduhn. Um die Rattenpopulation dauerhaft zu dezimieren, sei »die Aufklärung der Bevölkerung« von Bedeutung.
In Berlin-Neukölln greift man auf die von Geduhn als präventiv bezeichneten Maßnahmen seit Kurzem noch aus anderen Gründen zurück. Das bisherige Vorgehen, darunter das regelmäßige Auslegen von Giftködern, hätte sich »allein als nicht effektiv erwiesen«, begründete das Bezirksamt eine zum 1. Juli eingeführte Allgemeinverfügung für den Hermannplatz.
Seitdem ist das »Füttern von Ratten sowie das Auslegen von Futtermitteln, Lebensmitteln oder sonstigen essbaren Sachen, die zum Anlocken beziehungsweise Füttern von Ratten geeignet sind« untersagt. Abfälle seien so zu beseitigen, dass sie für Ratten unzugänglich sind. Gleiches gilt für das Lagern von Lebensmitteln. Auf dem Platz sind regelmäßig Marktstände aufgebaut, von denen aus Speisen und Getränke verkauft werden. Etliche Kund*innen entsorgen ihre Käufe gleich unmittelbar auf dem Hermannplatz.
Ein Verstoß gegen die Allgemeinverfügung kann als eine Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße von bis zu 25 000 Euro bestraft werden. Die Allgemeinverfügung ziele »auf die Menschen und soll durch die Schaffung eines Bewusstseins für den eigenen Beitrag dazu auf eine Verhaltensänderung hinwirken«, erklärt Neuköllns Bezirksstadtrat für Gesundheit, Hannes Rehfeldt (CDU), auf Nachfrage. Das Land Berlin erklärte, weitere bauliche Maßnahmen zu prüfen, um Nistmöglichkeiten für die Ratten zu beseitigen.
Für eine Beurteilung der Maßnahmen sei es so kurz nach Inkrafttreten der Allgemeinverfügung noch zu früh, teilt Rehfeldt mit. Die Kontrollen würden regelmäßig sowohl von uniformierten Beschäftigten der Ordnungsämter als auch von solchen in Zivilkleidung durchgeführt. Wie der Bezirksstadtrat erklärt, habe es bisher mehrere Anzeigen gegeben, zu denen die Beschuldigten angehört würden. Noch seien keine Ordnungsgelder verhängt worden. »Insbesondere wird das unerlaubte Füttern von Tieren sowie das vorsätzliche Abladen großer Mengen Brot verfolgt«, teilt der CDU-Politiker mit.
Anke Geduhn vom Umweltbundesamt zufolge werde man sich mit der Ratte als »Kulturfolger des Menschen« weiterhin arrangieren müssen: »Sie auszurotten ist utopisch. Wir plädieren daher für ein ganzheitliches Vorgehen unter der Fragestellung: Wie kann einem Befall vorgebeugt werden und wo stellt die Ratte ein Problem dar?«
Alle Teile der Wildtier-Serie finden Sie hier: Teil 1: Störche in Berlin; Teil 2: Igel in Berlin; Teil 3: Füchse in Berlin; Teil 4: Ratten in Berlin
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