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Die Unterlegenheit der Überlegenen
Olivier David meint zu erkennen, wie die Narrative der Herrschenden ins Wanken geraten
Im Feudalismus war der Narr am Hof derjenige, der mit den Mitteln des Humors das alleinige Mandat für Kritik am König oder Lehnsherr innehatte. Dabei bestätigte das Sichtbarmachen unbequemer Wahrheiten natürlich nur die tatsächlichen Sprechverbote, die vorherrschten. Auf einem ähnlichen Weg befinden sich heute Teile des bürgerlichen Journalismus, allen voran die öffentlich-rechtlichen Medien. Kritik an der immer autoritärer werdenden Innen- und Außenpolitik findet nach wie vor statt, aber je präziser und schärfer sie formuliert wird, desto sicherer sind zwei Wahrheiten: Sie wird erst nach 22 Uhr gesendet, und es sind vor allem Comedy-Formate, die die heißen Eisen Militarisierung, Polizeigewalt und Armenhass adressieren.
Was bringt uns das reflexhafte Betonen einer unabhängigen Presse, wenn bürgerliche Medien jedem Herrschaftsprojekt nach dem Mund reden? Welche Funktion außer der, eine ideologische Rechtfertigung der Untaten der Bundesregierung zu liefern, hat es, wenn die Tagesschau minutenlang über 18 Tonnen Lebensmittel berichtet, die die Bundeswehr der Bevölkerung in Gaza auf den Kopf knallt, nachdem sie fast zwei Jahre die massenhafte Ermordung der Menschen in Gaza unterstützt hat?
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der monatlichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
Medien sind natürlich nur ein Teil des Problems. Auch in der Politik sehen wir, dass etwa die Antworten auf Massenverarmung kontinuierlich folgende sind: mehr vom Falschen. Als Reaktion auf das Nullwachstum werden die Daumenschrauben ausgerechnet bei den Armen angezogen. Das ist nicht nur intellektuell beleidigend, sondern schlicht barbarisch. Schon jetzt können sich viele Armutsbetroffene kaum eine vollwertige Mahlzeit am Tag leisten. Dasselbe bei Konflikten zum Thema Gaza: Betätigungsverbote müssen im Nachhinein aufgehoben werden, weil sie unrechtmäßig waren, und durch die Polizei verbotene Parolen sind doch nicht strafbar. Hätten die aufgezählten Fälle nicht drastische Konsequenzen für die Aktivist*innen zur Folge, man könnte gar nicht mehr aufhören, über die Lächerlichkeiten der Staatsbediensteten zu lachen.
Zoomt man etwas raus, zeigt sich das Bild einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Kontrollinstitutionen keine kohärente Zeitdiagnose gelingt. Nicht nur findet weder der Politikbetrieb, noch der bürgerliche Journalismus übergeordnete Erklärungen für die Entrechtung immer größerer Teile der Bevölkerung – auch Judikative und Exekutive stecken immer häufiger juristische und moralische Niederlagen ein. Die vereinten Nationen kritisieren Deutschland seit Jahren für die repressive Polizeiarbeit, in Sachen Pressefreiheit rutscht Deutschland ab und auch die Vermögensungleichheit ist hier mit am höchsten im EU-Vergleich.
Die intellektuelle Verarmung bei gleichzeitig immer restriktiverer Ausübung von Herrschaft ist ein deutliches Indiz, um das Scheitern bürgerlicher Welterklärer als Unterlegenheit der Überlegenen zu bezeichnen: Satt und warm, im Versuch den eigenen Herrschaftsanspruch zu bestätigen, denkt und handelt es sich nicht gut. Vielleicht stimmt hier ausnahmsweise das abgedroschene Bild vom Scheitern als Chance. Ihre Niederlagen schaffen Platz für eine Erzählung der Vielen.
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