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Tokioter Prozesse: Imperialismus vor Gericht
Nach den Atombombenabwürfen vor 80 Jahren kapitulierte Japan. Gary J. Bass rekonstruiert den Kriegsverbrecherprozess gegen japanische Militärs
Drei Monate nach der deutschen Kapitulation wurde im Pazifik immer noch gekämpft. Zwar hatte Japan den Krieg zu diesem Zeitpunkt längst verloren, doch eine angeheizte militaristische Stimmung sorgte dafür, dass die japanischen Truppen trotzdem weiterkämpften. Erst nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki war es mit dem japanischen Widerstand vorbei. Wenige Tage nach den verheerenden Angriffen, die selbst ein fürchterliches Kriegsverbrechen darstellten, richtete sich Kaiser Hirohito an seine Untertanen, um den Krieg für beendet zu erklären. Für die meisten Japaner*innen war es das erste Mal überhaupt, dass sie ihr Staatsoberhaupt sprechen hörten – der »Tennō« inszenierte sich als göttliche Gestalt.
US-Autor Gary Bass, der in Princeton internationale Politik und Konfliktforschung unterrichtet, hat in einem 1080 Seiten umfassenden Buch die ersten drei Jahre nach Kriegsende in Japan rekonstruiert. Sein besonderes Interesse gilt dabei den Kriegsverbrecherprozessen, die ab April 1946 gegen 28 japanische Militärs und Politiker geführt wurden. Ähnlich der Nürnberger Prozesse, bei denen einige Monate zuvor fast 200 hochrangige NS-Funktionäre angeklagt worden waren, ging es auch in Tokio darum, die von den Achsenmächten begangenen Kriegsverbrechen öffentlich zu machen und Grundlagen einer internationalen Strafjustiz zu schaffen. Denn erstmals wurden Anklagepunkte verhandelt, die das internationale Recht bis dahin nicht als Tatbestand gekannt hatte: »Vorbereitung eines Angriffskriegs« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.
Verglichen mit Nürnberg blieb der Aufklärungseffekt in Tokio allerdings gering. Bis heute verweigert der japanische Staat eine offizielle Entschuldigung für begangene Kriegsverbrechen. Und im Yasukuni-Schrein, der offiziellen Gedenkstätte für Kriegstote, gedenkt das Land noch immer fast tausend verurteilten Kriegsverbrechern. Doch woran liegt es, dass das Tokioter Tribunal ganz anders endete als die Nürnberger Prozesse?
Der japanische Imperialismus
Das japanische Kaiserreich wütete in seinem Einflussbereich, der euphemistisch als »ostasiatische Wohlstandssphäre« bezeichnet wurde, kaum weniger brutal als seine faschistischen Verbündeten in Europa. Und auch ideologisch gab es wichtige Gemeinsamkeiten: Die Mitte des 19. Jahrhunderts in Japan etablierte Staatsreligion, der »Staats-Shintō«, propagierte die ethnische »Reinheit« des Volkes, die Überlegenheit der eigenen Kultur und den Militarismus zur Durchsetzung ökonomischer Interessen. Verglichen mit den faschistischen Bewegungen in Deutschland oder Italien war die japanische Staatsideologie aber deutlich traditionalistischer. Im Mittelpunkt des Staats-Shintō stand die Rekonstruktion japanischer Sitten, und im Unterschied zu Hitler oder Mussolini war der Tennō, der kaiserliche »Führer« der Japaner*innen, so göttlich, dass er nicht direkt zu seinen Untertanen sprach.
Zudem besaß der japanische Nationalismus eine antikoloniale Komponente. In Anbetracht der europäischen Kolonialexpansion hatte sich das Land in den 1630er Jahren isoliert. Erst ab den 1850er Jahren setzten die Eliten des Landes auf einen Modernisierungsprozess, bei dem sich Traditionalismus und ökonomischer Expansionsdrang zu einer eigenständigen Form von Imperialismus verbanden.
Von da an jedoch ging es erstaunlich schnell: 1895 besetzte Japan die Insel Taiwan, 1899 beteiligte man sich an der Seite der europäischen Kolonialmächte an der blutigen Niederschlagung des chinesischen Boxer-Aufstands, 1905 verleibte sich Japan Korea als Protektorat ein. Gleichzeitig wuchsen die japanischen Investitionen in der chinesischen Mandschurei so schnell, dass 1932 ein Marionettenstaat namens Mandschuko errichtet werden konnte. Einher ging diese nachholende Landnahme mit einem Rechtsruck zu Hause: Nach einem Putschversuch ersetzten die Militärs die Parteienherrschaft 1932 durch eine »Regierung der nationalen Einheit«.
Insofern lassen sich die japanischen Weltkriegsverbrechen als logische Konsequenz eines Imperialprojekts interpretieren, das zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung 7,4 Millionen Quadratkilometer umfasste und von der sowjetischen Grenze im Norden bis zur Insel Timor südlich des Äquators reichte. In Hollywood-Filmen werden bis heute vor allem die Misshandlungen alliierter Kriegsgefangener thematisiert, doch noch weitaus brutaler behandelte der japanische Militarismus seine asiatischen Nachbar*innen. In China verfolgte die japanische Armee eine Aufstandsbekämpfung, die unter dem Namen »Drei Alles« berühmt wurde (»Tötet alle, verbrennt alles, plündert alles«) und am Ende 20 Millionen Chines*innen das Leben kostete. Fürchterlich war auch das Schicksal der bis zu 200 000 Zwangsprostituierten, die die japanische Armee unter anderem aus Korea und Taiwan in Militärbordelle verschleppte.
Gary Bass resümiert das Vorgehen Japans in Ostasien folgendermaßen: »In Singapur behandelten die japanischen Besatzer Inder und Malaien als rassisch minderwertig, verhafteten und töteten Tausende ethnischer Chinesen, standen in ›Trosthäusern‹ Schlange für erzwungenen Sex mit dort gefangengehaltenen koreanischen Frauen, sie enthaupteten Plünderer und stellten ihre Köpfe auf Brücken und an Straßenrändern als Warnung zur Schau.«
Gerechtigkeit in Tokio?
Doch auch wenn der Kolonialrassismus der Japaner seinen europäischen Vorläufern in nichts nachstand, gelang es dem Tokioter Kriegsverbrechertribunal nicht wirklich, die Verantwortlichen bloßzustellen. Autor Gary Bass zufolge lag das auch daran, dass sich die USA nicht recht entscheiden konnten, was sie in erster Linie verhandelt sehen wollten – den japanischen Angriff auf die USA oder die in Asien begangenen Menschrechtsverbrechen. Diese Unentschlossenheit spiegelte sich auch in der Zusammensetzung des Tribunals wider. Anders als bei den Nürnberger Prozessen waren in Tokio nicht nur die vier Alliierten mit Richtern vertreten, sondern man hatte sich um eine international zusammengestellte, elfköpfige Jury bemüht.
Besonders gelungen war die Auswahl allerdings nicht. »Der Tokioter Prozess war auf Schritt und Tritt vom Problem der Imperien geplagt«, schreibt Bass. »Die meisten Richter stammten aus Kolonialmächten, die, wie insbesondere die Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und die Niederlande, aber auch die Vereinigten Staaten mit ihren Interessen auf Hawaii und den Philippinen, in ganz Asien verhasst waren. Der britische Einfluss auf der Richterbank wurde durch das Weltreich vergrößert, weil auf dieser weiße probritische Richter aus Australien, Kanada und Neuseeland saßen. Dagegen hatte man auf Richter aus den betroffenen Ländern Korea, Indonesien, Vietnam oder Singapur verzichtet. (…) Selbst die verspätete Ernennung eines indischen und eines philippinischen Richters war ein nachträglicher Einfall, der mehr als Gefälligkeit gegenüber Briten und Amerikanern als gegenüber Indern und Filipinos gedacht war.«
»Der Tokioter Prozess war auf Schritt und Tritt vom Problem der Imperien geplagt.«
Gary Bass in »Tribunal in Tokio«
Bei der Darstellung des Verfahrens gelingt es Bass ganz ausgezeichnet, den komplexen Stoff zu sortieren. Gekonnt verschränkt er atmosphärische Schilderungen, biografische Passagen und politische Analysen. Dabei verdeutlicht er, dass auch persönliche Defizite für den Misserfolg der Prozesse verantwortlich waren. Vor allem Chefankläger Joseph B. Keenan kommt bei Bass nicht gut weg. Der ehemalige US-Justizminister sei zwar ein alter Freund von Präsident Harry Truman gewesen, habe aber »weder das Format noch den Intellekt (...) seines Nürnberger Kollegen« besessen, so Bass. »Der bullige Mann (…) erwies sich als schwülstig und uneffektiv, hatte keine Ahnung von Asien und litt unter einem Alkoholismus, der am Gerichtshof bald zum Klatschthema wurde.«
Am Ende des Prozesses im November 1948 wurden sieben Todesstrafen und 16 lebenslange Haftstrafen gegen Generäle und Politiker verhängt – von denen allerdings 13 im Verlauf des darauffolgenden Jahrzehnts vorzeitig entlassen wurden. Rein formal hatte das Gericht seine Funktion erfüllt. Doch die meisten Beobachter werteten das Verfahren als Misserfolg. In der Zeitschrift Time hieß es, man sei »bei der Klärung der Frage, ob diese Verfahren für Gerechtigkeit oder nur für die Rache der Sieger stehen, kein Stück weitergekommen«.
Das lag vor allem an der mangelnden Einigkeit unter den Richtern und im Besonderen am Minderheitenvotum des indischen Richters Radhabinod Pal, der eine Verurteilung der Japaner mit Verweis auf die europäischen und US-amerikanischen Verbrechen verweigerte. Zwar war Pal alles andere als ein Sympathisant des Militarismus. Doch in Anbetracht der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki stellte er die Legitimität eines von den USA eingesetzten Gerichts infrage, über Menschenrechtsverbrechen zu urteilen.
Grenze der liberalen Perspektive
Ganz nebenbei verhandelt Gary Bass’ Buch damit ein Problem, das heute wieder hochaktuell ist – nämlich die Frage, wie aufstrebende beziehungsweise aufbegehrende Konkurrenten des Westens zu bewerten sind. Während die einen China und Russland als Staaten dämonisieren, die angeblich nie dagewesene Verbrechen begehen, verharmlosen vor allem Linke im globalen Süden den aggressiven Chauvinismus der beiden Länder mit Verweis auf westliche Verbrechen. Dabei zeigt der historische Fall Japan, dass ein Staat problemlos beides sein kann: antiwestlich und imperialistisch.
Doch Gary Bass diskutiert solche Fragen nur ansatzweise. Am Ende hat seine vom normativen Liberalismus geprägte Perspektive selbst ideologische Grenzen. Zwar arbeitet Bass sorgfältig heraus, dass der antijapanische Rassismus US-amerikanischer Akteure es den japanischen Tätern erleichterte, sich als Opfer zu inszenieren. Und Bass diskutiert auch ausführlich, dass die USA eine weiterreichende Aufklärung verhinderten, weil sie den japanischen Kaiser als antikommunistischen Verbündeten schützen wollten. Aber diese Kritik bezieht sich selten auf strukturelle Zusammenhänge.
Während Bass die sowjetische Position in den Kriegsverbrecherprozessen – völlig zurecht – mit den Machtinteressen des Stalinismus erklärt, beschreibt er Widersprüche zwischen politischer Rhetorik und Praxis im Fall der USA immer mit persönlichen Fehlern. Aus Bass’ Perspektive war Washington bei der Umsetzung einer universalistischen Prinzipien verpflichteten Internationalen Strafjustiz einfach nicht konsequent genug.
Interessant wäre allerdings zu diskutieren, ob diese Entscheidung nicht genauso »strukturell« erklärt werden muss wie im Fall der Sowjetunion. Für die USA, die auf den Philippinen bis 1946 selbst Kolonialmacht waren, ging es darum, den ökonomischen und geopolitischen Raum für die Zukunft zu sichern. Sobald Menschenrechte in Konflikt mit diesen Interessen gerieten, mussten sie zurücktreten. Dass der »demokratische« Imperialismus letztlich kaum weniger grausam vorging als seine autoritäre Variante, bewiesen die ab 1945 geführten Kolonial- und Imperialkriege der Niederlanden (in Indonesien), Großbritanniens (in Malaya), Frankreichs und der USA (in Indochina). Umgekehrt müsste man also fragen, ob der blutrünstige japanische Imperialismus nicht einfach ein Versuch war, das bürgerliche Europa erfolgreich zu kopieren.
Gary J. Bass: »Tribunal in Tokio: Die Kriegsverbrecherprozesse in Japan und die Neuordnung Asiens nach 1945«, S. Fischer 2025, 1080 S., geb., 48 €.
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