Westjordanland: Der stille Krieg

Israel treibt die Annexion des Westjordanlands voran

  • Marco Keilberth, Amman
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Ausbau geht weiter: Ein Blick auf das Ostjerusalemer Viertel Alzaim und die israelisch-jüdische Siedlung Ma’ale Adumim im Westjordanland.
Der Ausbau geht weiter: Ein Blick auf das Ostjerusalemer Viertel Alzaim und die israelisch-jüdische Siedlung Ma’ale Adumim im Westjordanland.

Israels Regierung zeigt sich unbeeindruckt von der internationalen Kritik an dem Beschluss, nun auch noch Gaza-Stadt zu erobern. Fünf Kriegsziele hatte das aus engen Vertrauten von Benjamin Netanjahu bestehende Sicherheitskabinett nach einer hitzigen Nachtsitzung am Freitagmorgen beschlossen. Die Entwaffnung der Hamas, die Rückkehr aller lebenden und toten Geiseln, die Entmilitarisierung des gesamten Gaza-Streifens, die Einsetzung einer zivilen Verwaltung ohne Einfluss von Funktionären der Hamas und der Autonomiebehörde in Ramallah und eine dauerhafte israelische Sicherheitskontrolle.

Im Windschatten des Gaza-Kriegs steht die Annexion des Westjordanlands auf dem Plan. Diese wurde von dem israelischen Parlament, der Knesset, in der Vorwoche in einem nicht bindenden Beschluss abgesegnet. Doch die von Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben Gwir propagierte Schaffung eines »Großisraels« ist völkerrechtlich illegal. »Wir werden nichts mehr an Gebieten übrig lassen, die als Staat anerkannt werden können«, feixte Smotrich in der Knesset: »Alle sind bereit für den lange überfälligen Schritt. Herr Premierminister, entscheiden sie jetzt!«

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Fast täglich vertreiben radikale Siedler palästinensische Bauern von ihren Feldern. Die zumindest offiziell neutralen Soldaten der israelischen Armee schauen zu, weil zwischen Hebron und Jenin die meisten eingezogenen Reservisten selbst aus den illegal errichteten Städten kommen.

Am Stadtrand von Jerusalem laufen die Planungen für ein Projekt auf Hochtouren, das es nicht wie Gaza in die Nachrichtensendungen schafft, aber das israelisch-palästinensische Miteinander ebenso stark verändern wird. Unter Palästinensern ist es unter einem drastischen Namen bekannt: »Doomsday« – die Weltuntergangs-Siedlung. In den Planungsunterlagen der israelischen Behörden wird der Bau von bis zu 3500 Wohneinheiten E-1 genannt. E steht für East, östlich von Jerusalem, eins für die Nähe zum Stadtrand des besetzten Ostjerusalem.

Den bis dato letzten von Finanzminister Bezalel Smotrich im Juni 2023 angestoßenen Baubeginn hatte damals die von Präsident Joe Biden geführte US-Regierung verhindert. Denn die war sich ebenso wie die Übergangsverwaltung in Ramallah und die europäischen Regierungen der Tragweite bewusst. Die Vollendung des Mitte der 90er-Jahre von dem damaligen Premier Yitzhak Rabin vorgestellten Bauprojekts wäre gleichbedeutend mit dem Ende der Zwei-Staatenlösung. Wie eine große Sperranlage wird E1 die letzte Verbindung zwischen Hebron, Jerusalem und Ramallah kappen. Wie in dem von Smotrich im Jahr 2017 verfassten »Unterwerfungsplan« beschrieben, würde die territoriale Teilung des Westjordanlands in palästinensische Enklaven mit E1 abgeschlossen.

E1 bedroht mehrere nordöstlich von Jerusalem liegende beduinische Siedlungen, die offenbar der Straße nach Ma’aleh Adumim weichen sollen. Immer wieder werden dort lebende Hirten von ihren Feldern vertrieben, Siedler zerstören Wassertanks und -Leitungen der jetzigen Bewohner. Ziel ist die Schaffung eines durchgehenden jüdischen Siedlungsrings von Ostjerusalem bis Ma’aleh Adumim. Dort wird das Projekt nach einem Zitat des Bürgermeisters auch Trump 1 genannt.

Nach den Statuen des Oslo-Friedensabkommens liegt E1 im Sektor C des Westjordanlands, damit ist die israelische Armee für die Sicherheit verantwortlich. Die geplanten Neubaugebiete sollen den Behörden der 40 000-Einwohner-Siedlung und Ostjerusalems unterstehen. In Ma’aleh Adumim ist bereits eine neue Polizeistation entstanden. Da Palästinenser die Straßen der Siedler nicht nutzen dürfen, ist für sie eine neue Nord-Südroute nötig. Die Behörden in Ramallah fürchten, dass auch so eine Route von der israelischen Armee (IDF) jederzeit geschlossen werden könnte. Das französische Außenministerium warnte vor dem Bau der E1-Siedlung. Das Projekt verletze internationales Recht und gefährde eine Zwei-Staatenlösung, heißt es in einer Erklärung vom 15. Juli.

Smotrich will die Annexion von Gaza und dem Westjordanland noch während der Präsidentschaft von Donald Trump über die Bühne bringen. Während der Parlamentssitzung über die einzelnen Schritte der Einverleibung wurde nicht einmal mehr vom Westjordanland als »umstrittenes« Gebiet gesprochen, sondern vom historischen Israel. Vize-Parlamentspräsident Yoni Chetboun feierte den möglichen Anschluss als Heimkehr in Gebiete, die seit 3000 Jahren jüdisch seien.

»Wir werden nichts mehr an Gebieten übrig lassen, die als Staat anerkannt werden können«

Bezalel Smotrich Finanzminister Israels

E1 ist der Schlüssel zur Annexion

Am vergangenen Mittwoch war erstmals seit zwei Jahren eine Planungskommission in Jerusalem zusammengekommen, die alle Bauphasen erarbeiten soll. In den nächsten Tagen könnte Benjamin Netanjahu den Startschuss zum Bau geben, so gut informierte Quellen. 3500 Wohneinheiten sollen die illegale Ma’aleh Adumin-Siedlung mit Ostjerusalem verbinden.

»Die Grundsteinlegung wäre tatsächlich eine Art Tag des Untergangs«, sagt der Journalist Mohamed Quisini aus Nablus. E1 würde den palästinensischen Warenverkehr, die Überlandtaxis auf Nebenstraßen zwängen, in denen Siedler über die Weiterfahrt entscheiden.

Im März hatte die Trump-Administration in einem 1214 Hektar großen Gebiet schon dem Bau von Verbindungsstraßen, Rodungen und der Verlegung von Stromtrassen zugestimmt. Die »Fabrik des Lebens« und »Souveränitätsstraße« genannten mehrspurigen Routen sind bereits im Bau und werden nur von jüdischen Israelis befahren werden dürfen. Der Bürgermeister des mitten im Westjordanland liegenden Ma’aleh Adumin will einen Sperrzaun errichten lassen, der nach den Vorstellungen der Projektplaner am Ende bis Jerusalem reichen könnte. Damit wären Dutzende beduinische Gemeinden wie al Khan Al-Ahmar vom Rest der Westbank abgeschnitten. Wo die für Palästinenser zugänglichen Straßen zwischen Hebron, Ramallah und Jerusalem verlaufen werden, ist noch unklar.

Der palästinensische Journalist Nida Ibrahim sieht E1 als Kern der Kantonisierungsstrategie, die nun endgültig umgesetzt werden soll. »Die kleinen Enklaven wären keine Gefahr mehr für ein ›Großisrael‹, das möglichst schnell umgesetzt werden soll.«

Auf dem Gebiet von E1 wurden in den vergangenen Tagen mehr als 30 Palästinenser in Präventivhaft genommen, die bis zu sechs Monate andauern kann. »Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit liegt auf Gaza. Aber wir benötigen konkrete Unterstützung ausländischer Diplomaten«, sagt Issa Amro, ein Aktivist aus Hebron, »wenn die Idee eines palästinensischen Staates nicht nur Symbol bleiben soll.«

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