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Wettbewerbsfähigkeit – was ist das eigentlich?

In Zeiten schwachen Wirtschaftswachstums machen sich die Kapitalstandorte den Wohlstand gegenseitig streitig

Globale Überkapazitäten: Neue MG-Fahrzeuge im chinesischen Hafen von Lianyungang
Globale Überkapazitäten: Neue MG-Fahrzeuge im chinesischen Hafen von Lianyungang

Die Elite aus Politik und Wirtschaft ist sich einig: Deutschland braucht mehr Wirtschaftswachstum – zur Finanzierung des Sozialstaats, des Klimaschutzes, der Aufrüstung und der Infrastruktur. Der Weg dahin, auch darin stimmt man überein, führt über mehr Wettbewerbsfähigkeit. Denn Deutschland und Europa seien gegenüber den USA und China zurückgefallen, weswegen alles für die Wettbewerbsfähigkeit getan werden müsse: mehr arbeiten, mehr investieren, weniger Soziales, weniger Bürokratie, Steuern und Klimaschutz. Das Ringen um Wettbewerbsfähigkeit verrät einiges über den Zustand der Welt.

Tatsächlich ist Europa zurückgefallen – einfach weil andere vorgeprescht sind. Waren die Ökonomien der EU und der USA vor 16 Jahren noch etwa gleich groß, so produziert die US-Wirtschaft heute 80 Prozent mehr als die europäische. Mit weitreichenden Folgen für Europa: »Ohne Wirtschaftswachstum beginnt man geopolitisch zu verschwinden«, so Jared Cohen von der US-Investmentbank Goldman Sachs. Dies sei nicht die Schuld Donald Trumps. In den USA gebe es »eine parteiübergreifende Abkehr von Europa aufgrund dieses mangelnden Wirtschaftswachstums«.

Wankendes Geschäftsmodell

Als Ursache für den Rückstand wird eine schwache Wettbewerbsfähigkeit des Standortes ausgemacht. »Mit dem Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gerät das Geschäftsmodell der deutschen Volkswirtschaft ins Wanken«, klagt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Und laut Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo »kämpft die deutsche Industrie mit strukturellen Nachteilen – etwa bei Energiepreisen, Regulierung und Investitionsbedingungen«. Jetzt brauche es entschlossene Reformen, damit die deutsche Industrie im globalen Wettbewerb nicht noch weiter zurückfalle.

Die Klage ist nicht auf Deutschland beschränkt. Weltweit, so der Internationale Währungsfonds (IWF), zielten Länder auf eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit. Das sieht der IWF auch kritisch, da das Konzept der Wettbewerbsfähigkeit auf ein Gegeneinander der Standorte abziele: »Wenn die Produktivität eines anderen Landes steigt, muss das eine schlechte Nachricht sein, denn das eigene Land wird dadurch weniger wettbewerbsfähig.« Diese Logik passe vielleicht zu einem Fußballspiel, in dem nur einer gewinnen könne. »Eine wichtige Erkenntnis aus der Wirtschaftswissenschaft ist jedoch, dass der Welthandel kein Nullsummenspiel ist«, so der IWF. »Indem jedes Land sich auf die Güter und Dienstleistungen spezialisiert, die es am effizientesten produzieren kann, steigert der globale Handel die Produktivität weltweit, und alle sind besser dran.«

»Ohne Wachstum beginnt man geopolitisch zu verschwinden.«

Jared Cohen Goldman Sachs

Diesem harmonischen Bild des globalen Handels entgegen steht jedoch die aktuelle Situation. Der IWF selbst gibt zu, dass »Politiker weltweit um Lösungen ringen, wie sie das Wachstum ankurbeln und neue Chancen erschließen können«. Denn es herrscht ein allgemeiner Mangel an Wachstum, und zwar nicht erst seit Kurzem. »Das Produktivitätswachstum ist in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften seit Jahrzehnten rückläufig und seit Kurzem auch in mehreren Schwellenländern, was das Wachstum insgesamt bremst«, vermerkt die Bank für internationalen Zahlungsausgleich. Der US-Zollkrieg verschärfe dieses Grundproblem lediglich.

Der verschärfte Kampf um Anteile am globalen Wachstum zeigt sich auch an den Überkapazitäten in vielen Branchen, die zu Preiskriegen führen, zum Beispiel im Autobau. Der chinesische Markt beispielsweise fällt damit als Konjunkturmotor für den Westen weitgehend aus – auch für Deutschland. »In einer zunehmend deglobalisierten Ökonomie gelingt es der industriebasierten und exportorientierten Wirtschaft immer weniger, an dem Wachstum seiner Hauptzielländer teilzuhaben«, so das IW. Im Juli beklagte mehr als jedes dritte deutsche Unternehmen einen Mangel an Aufträgen. »Der anhaltende Auftragsmangel bleibt ein zentrales Hemmnis für eine substanzielle konjunkturelle Erholung«, so das Ifo.

Im Bemühen, den konkurrierenden Standorten Wirtschaftsleistung streitig zu machen, setzen Politiker*innen daher allerorten auf mehr Wettbewerbsfähigkeit: Auf ihrem Territorium und in ihrer Währung soll möglichst viel kapitalistische Reichtumsproduktion stattfinden. Dies führt bei den Zukunftsbranchen zu dem Bedürfnis, die anderen abzuhängen – »führend« zu werden. »Deutschland muss wirtschaftlich wieder an die Spitze«, forderte Bundeskanzler Friedrich Merz. Und laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen müssten die Europäer »die Führenden bei klimafreundlichen Industrien, Technologien und Finanzierungen sein«. Denn »diejenigen, die die Technologien entwickeln und herstellen, die das Fundament der Wirtschaft von morgen bilden, werden den größten Wettbewerbsvorteil haben.«

Jeder gegen jeden

Dieser Wettbewerbsvorteil soll sich auch in politische Macht übersetzen. Daher bemüht sich die US-Regierung, »eine nationale Innovationsstrategie zu entwickeln, die unsere globale Führungsrolle in grundlegenden Technologien wie KI, Quantenphysik, Biotechnologie, Halbleiter, Robotik und Hyperschalltechnik aufrechterhält und stärkt«, erklärt Daleep Sing, ehemaliger stellvertretender nationaler Sicherheitsberater des US-Präsidenten. Davon versprechen sich die USA »ein enormes Potenzial zur Steigerung unseres Wirtschaftswachstums und unserer militärischen Stärke«.

Geopolitische Macht braucht also Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum. Und das Wachstum braucht die geopolitische Macht, um Handels- und Investitionsbedingungen weltweit mitzubestimmen. Zur ökonomischen Aufrüstung der Standorte gesellt sich daher die militärische, die derzeit mit Abermilliarden neuer Schulden finanziert wird. Diese Schulden sind ein Vorgriff auf das erwartete Wachstum – fällt es aus, droht eine neue Schuldenkrise. So wird für jeden Standort Wettbewerbsfähigkeit zum Sachzwang, um die nationale Sicherheit zu gewährleisten, die sich die Standorte gegenseitig streitig machen.

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