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Lieferando: Stellenabbau und Streikplanung in Berlin und Potsdam
Lieferando schließt 34 seiner Standorte, darunter Potsdam. Nur langsam erwacht der Protest in der sonst so lautstarken Hauptstadtregion
Die Nachricht war von vielen Beschäftigten erwartet worden. Schon im März wurde öffentlich, dass der Lieferdienst Lieferando in Österreich alle seine festangestellten Kurier*innen entlassen und die Aufträge an Drittdienstleister vergeben wird. Kurz darauf wurde bekannt, dass in Berlin-Spandau ebenfalls mit der Umstellung auf Subunternehmen experimentiert wird. Mitte Juli folgte dann die Nachricht, dass es auch in Deutschland zu umfassenden Entlassungen kommen soll. 20 Prozent der Stellen werden abgebaut, insgesamt 2100. Bei einer »natürlichen Fluktuation von rund acht Prozent der Fahrer*innen«, die Lieferando erwartet, dürfte insgesamt zwölf Prozent aller Beschäftigten die Kündigung winken. Der Stellenabbau konzentriert sich auf 34 Standorte, die geschlossen werden, darunter auch der in Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam.
Mit 40 bis 60 angestellten Kurier*innen ist Potsdam ein vergleichsweise kleiner Standort. Am 17. Juli informierte Lieferando über seine Kürzungspläne. In einer Mitteilung an die Beschäftigten in Potsdam hieß es, die Einstellung des Betriebes erfolge »mit großem Bedauern« und »um die Agilität und Effizienz des Unternehmens zu erhöhen«. Das genaue Datum hängt auch davon ab, wann sich Gesamtbetriebsrat und Unternehmen auf einen Sozialplan verständigen. Lieferando spricht von »Ende des Jahres« und von »fairen Abfindungspaketen«. Aus einer internen Mitteilung von Mitte Juli geht hervor, dass auch in Berlin, anders als in anderen Städten, die letzten Neueinstellungen im März erfolgten. »Aufgrund der üblichen Saisonalität« und des nicht näher bezifferten geplanten Stellenabbaus in der Hauptstadt, wie Lieferando mitteilte. Ziel sei es, die Anzahl von Kündigungen zu minimieren.
Weiter teilte Lieferando mit, dass in Potsdam die Auslieferung künftig von anderen Dienstleistern übernommen werden soll. Namen nannte das Unternehmen nicht. Zuletzt war das von Lieferando unter anderem in Spandau beauftragte Unternehmen Fleetlery in die Kritik geraten. Der in Hamburg angemeldete Dienstleister für die Auslieferung auf der sogenannten letzten Meile verfügt über eine eigene Flotte von etwa 3000 Kurier*innen, gibt eingesammelte Lieferaufträge aber auch an regionale Partner weiter. Wie »nd« berichtete, werden Fleetlery-Kurier*innen zum Teil in Bar bezahlt. Ob das Unternehmen dabei Sozialabgaben zahlt, ist für die Beschäftigten nur schwer nachvollziehbar. Eine Anfrage der Linke-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft hatte ergeben, dass Fleetlery über »keine geeignete Arbeitsschutzorganisation« verfügt. Das ZDF berichtete, dass Stellenanzeigen von Fleetlery immer wieder nach einer Gewerbeanmeldung verlangt hätten.
»Immer mehr Kolleg*innen sind streikbereit.«
Lieferando-Betriebsrat Berlin
Fleetlery-Fahrer*innen liefern dabei nicht nur für Lieferando, sondern meist für verschiedene Vertragspartner, so auch für Uber Eats. Uber Eats und Wolt, die Hauptkonkurrenten von Lieferando, setzen nahezu in vollem Umfang auf Subunternehmen. »nd« berichtete immer wieder davon, wie diese Auftragsstrukturen den Einblick in die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse erschweren und Ausbeutung über das übliche Maß hinaus erleichtern. Kritiker*innen befürchten, dass der nun von Lieferando vollzogene Schritt nur der erste sein könnte in der Umstellung auf eine eigene »Schattenflotte«. In der Vergangenheit hatte Lieferando die Ablehnung eines Tarifvertrags damit begründet, dass dieser zu weiteren Wettbewerbsnachteilen führen könnte.
Lieferando gibt an, die Flottenpartner sorgfältig auszuwählen und regelmäßig zu kontrollieren. Mittelfristig sollen knapp fünf Prozent aller Lieferando-Bestellungen durch die zusätzlichen Subunternehmen bearbeitet werden. Der Mammutanteil aller Bestellungen wird dabei ohnehin schon heute von den Restaurants selbst zugestellt. Die Angaben darüber, wie viele der Bestellungen insgesamt nicht von Lieferando selbst ausgeliefert werden, schwanken dabei. Einer Lieferando-Sprecherin zufolge beläuft der Anteil sich auf 80 Prozent, der Berliner Betriebsrat spricht von 95 Prozent. Die genannten Maßnahmen erfolgten vor allem vor dem Hintergrund der hohen Erwartungen der Restaurants und deren Kund*innen, erklärt Lieferando. Die Effizienzsteigerung durch den Einsatz von plattformübergreifenden Lieferdiensten komme auch den festangestellten Fahrer*innen zugute, etwa durch verbesserte Verdienstmöglichkeiten und »kürzere Fahrstrecken«, was die Betriebsräte wiederholt gefordert hätten.
Der Protest bleibt dabei im Vergleich zur medialen Aufmerksamkeit noch recht verhalten. In Hamburg, wo Lieferando die Auslieferung auch komplett an Dritte abgibt, trifft es 500 Kurier*innen. Dort und vor allem im Ruhrgebiet organisierte die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) Protest gegen die Pläne und für den Abschluss eines Sozialtarifvertrags, mit dem die Entlassungen abgemildert werden sollen. In Dortmund rief die NGG zu einem 72-stündigen Warnstreik auf. An einer Streikkundgebung nahmen allerdings nur 60 Mitarbeiter*innen und Unterstützer*innen teil. Zu einer Demonstration in Hamburg waren 300 bis 500 Menschen erwartet worden, es kamen zwischen 100 und 150. Auch für die Hauptstadtregion ist Protest angekündigt. Dass die vergleichsweise lautstarke Berliner Belegschaft in dem Konflikt noch nicht wahrnehmbar war, liegt auch an den Besonderheiten der gewerkschaftlichen Organisierung vor Ort.
Der Berliner Betriebsrat, der auch für das Liefergebiet Potsdam zuständig ist, organisiert für den 29. August eine Betriebsversammlung, um die »Kolleg*innen zusammenzubringen und dadurch unsere Fähigkeit zum kollektiven Handeln zu stärken, die die Grundlage für alle möglichen rechtlichen Vereinbarungen bildet«. Das Lieferando Workers Collective (LWC), das den Betriebsrat dominiert, schreibt gar von einer »Streik-Versammlung«. Zu Streiks und damit zur Arbeitsniederlegung dürfen in Deutschland eigentlich nur tariffähige Gewerkschaften aufrufen. Betriebsversammlungen können aber, gerade wenn sie sehr lange dauern, zu streikähnlichen Effekten auf die Betriebsabläufe führen.
Zwischen dem LWC und der NGG gibt es in Berlin immer wieder Unstimmigkeiten. Zu den Betriebsratswahlen bildeten sie beziehungsweise unterstützten sie unterschiedliche Listen. Für viele migrantische Beschäftigte war die direkte Organisierung im Kollektiv lange attraktiver. Dennoch: Von den knapp 70 Listenmitgliedern des LWC ist nach eigenen Angaben die Hälfte Mitglied in der NGG – »Tendenz steigend«. Das LWC würde sich auch an Streikmaßnahmen der Gewerkschaft beteiligen. »Immer mehr Kolleg*innen sind streikbereit«, schreibt der Betriebsrat. Die NGG verzeichnet ihrerseits eine wachsende Mitgliedschaft unter den Lieferando-Beschäftigten. Veit Groß, Gewerkschaftssekretär der NGG, wollte sich aus taktischen Gründen »nicht zum konkreten Stand der Vorbereitungen zu Arbeitskampfmaßnahmen« äußern.
Neben dem aktuellen Abwehrkampf versucht die NGG seit Jahren einen unternehmensweiten Tarifvertrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Über eine gemeinsame Antragsstellung von Vertreter*innen von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen könnte das Bundesarbeitsministerium den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, dann würde er sämtliche Arbeitsverhältnisse in der Branche regeln.
In der Analyse der gegenwärtigen Lage sind sich Beschäftigtenkollektiv, Gewerkschaft und Betriebsrat einig. Die Schritte des Unternehmens setzen die Kolleg*innen unter Druck, die bereits jetzt am Rande des legal Möglichen arbeiteten. Sollten die Umstellungspläne erfolgreich sein, sei das »eine Steilvorlage für weitere Angriffe auf Beschäftigte überall«, so NGG-Sekretär Veit Groß.
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