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Ukraine-Krieg: Feindbild Kriegsdienstverweigerer
Die ukrainische Regierung will flüchtige Männer zu Kriminellen machen und verwandelt das Land in ein Lager
»Sie haben Auschwitz umzäumt«, kommentiert ein Autofahrer am Stadtrand der westukrainischen Gebietshauptstadt Uschhorod den aufgestockten Grenzzaun zum Nachbarland Slowakei in einem Video. Zwei Reihen Stacheldraht auf dem Zaun sollen ukrainische Männer davon abhalten, aus dem Land und damit vor der Armee zu fliehen.
Videos wie das aus Uschhorod tauchten zuletzt vermehrt in den sozialen Medien auf. In einem anderen Video zeigt ein Mann einen hohen Zaun mitten im Wald. Auf den Pfosten seien überall Kameras, erklärt er. Dazu würden Drohnen und Helikopter fliegen, »damit nicht ein Ukrainer aus dieser Sklaverei, aus diesem Wahnsinn fliehen kann«.
Jeden Tag fliehen 20 Ukrainer nach Rumänien
Doch wer nicht genug Geld hat, um sich von der Armee freizukaufen oder Beamte zu bestechen, die einem Ausreisebewilligungen ausstellen, versucht genau das: illegal über die Grenze zu entkommen. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres seien bereits über 5000 ukrainische Männer über die Karpaten nach Rumänien geflüchtet, berichten die Grenzschützer des EU-Landes. Jeden Tag sind das um die 20 Männer. Seit Kriegsbeginn sollen sich über 26 000 Ukrainer in Rumänien in Sicherheit gebracht haben.
Auch Polen, Moldau und selbst Belarus sind Ziele derjenigen, die aus der Ukraine flüchten. Und das trotz der lager- und festungsähnlich ausgebauten Grenzanlagen, an denen nach Angaben des ukrainischen Grenzschutzes allein seit Jahresbeginn über 13 000 Männer beim Versuch, sich zu retten, verhaftet wurden. Im Netz scherzen Ukrainer bereits, dass die durchlässigste Grenze zurzeit ausgerechnet die zum Aggressor Russland sei.
Von den Grenzern erwischt zu werden, ist bislang eine Ordnungswidrigkeit. Das will die neue Premierministerin Julia Swyrydenko ändern und hat dafür einen umstrittenen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, der den illegalen Grenzübertritt zur Straftat macht. Betroffene sollen demnach zukünftig Geldstrafen von 119 000 bis 170 000 Hrywnja (2400 bis 3500 Euro) zahlen und bis zu drei Jahre ins Gefängnis müssen. Auch diejenigen, die vor dem Militär ins Ausland fliehen konnten und nach Ansicht der Regierung nicht rechtzeitig zurückkehren, sollen zu Kriminellen gemacht werden. Sie sollen 34 000 bis 51 000 Hrywnja (700 bis 1050 Euro) zahlen oder für drei bis fünf Jahre inhaftiert werden. Außerdem, so wünschte es sich Präsident Wolodymyr Selenskyj, sollen Männer unter 22 Jahren ein generelles Ausreiseverbot bekommen.
Kritiker sehen autoritäre Tendenzen in der Regierung
In der Ukraine stoßen die Ideen auf Kritik. Der Telegram-Kanal Resident sieht darin ein Scheitern der bisherigen Taktik, keine Pässe mehr im Ausland auszugeben und die Menschen so zur Rückkehr zu zwingen. Weil das gescheitert sei, mache man alle Kriegsdienstverweigerer einfach zu Kriminellen, um dann von der EU deren Überstellung zu fordern, resümiert Resident.
Auch der Politikwissenschaftler Jurij Romanenko kritisiert die geplante Kriminalisierung. Das werde zu mehr Gewalt an der Grenze führen und mehr Männer motivieren, das Land zu verlassen. Und zwar endgültig. Romanenko glaubt, dass Männer so viel eher eine andere Staatsbürgerschaft annehmen werden. Für die Ukraine wäre das ein weiterer Baustein zur absehbaren demografischen Katastrophe. Romanenko sieht in den Plänen Parallelen zur Sowjetunion und zu deren Umgang mit Andersdenkenden. Im Land habe sich praktisch ein diktatorisches Regime gebildet, das die Instrumente der stalinistischen Sowjetunion kopiere, so der Politikwissenschaftler.
Rückkehrer werden zu den Mobilisieren geschickt
Dementsprechend harsch fielen die Reaktionen auf Selenskyjs Sonntagsrede zum Unabhängigkeitstag aus, in der Selenskyj eine blühende Zukunft für das immerwährende ukrainische Volk prophezeite. Statt in ein blühendes Land habe Selenskyj die Ukraine in ein Konzentrationslager verwandelt, das Rückkehrer zudem wie Verbrecher behandle, kritisierte neben Romanenko auch der Analyst Daniil Monin.
Tatsächlich bekommen Rückkehrer bereits Probleme. Zuletzt sorgte der Fall von 40 Männern, die zu Kriegsbeginn nach Russland entführt worden und nach der Freilassung wochenlang an der georgischen Grenze gestrandet waren, für Aufsehen. Nach ihrer Rückkehr in die Ukraine wurden sie direkt an das berüchtigte Mobilisierungsbüro TZK weitergeleitet. Das wiederum arbeitet weiter an seinem schlechten Ruf. Allein am Wochenende wurden zwei Todesfälle in TZK-Gewahrsam bekannt.
Parlament wehrt sich noch gegen die Kriminalisierung
Eigentlich sollte die Kriminaliserung der Kriegsdienstverweigerer schon Ende vergangener Woche durch das Parlament gepeitscht werden. Doch Rada-Präsident Ruslan Stefantschuk bezweifelt, dass das Parlament überhaupt zustimmen wird, da es »kein Potenzial« habe, »die soziale Situation der Ukraine zu verbessern«. Zuvor hatte sich bereits der Abgeordnete Oleksij Hontscharenko überzeugt gezeigt, dass die Rada Selenskyjs Willen nicht nachkommen werde.
Am Montag reagierte die Regierung mit einem neuen Gesetzentwurf, der Männern unter 24 die Ausreise erlaubt. Offiziell soll Studenten aus dem Ausland die Möglichkeit gegeben werden, ihre Familie in der Ukraine zu besuchen. In Wahrheit ist es ein Besänftigungsversuch, um die komplette demografische Katastrophe ein wenig zu vermindern.
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