»Wir schaffen das«: Das Vermächtnis

Zehn Jahre nach Merkels »Wir schaffen das« steht der Sommer 2015 auf dem Prüfstand. Wie sieht die Situation heute aus?

Wirken heute weit entfernt: Die »Willkommensklatscher« an den Bahnhöfen 2015
Wirken heute weit entfernt: Die »Willkommensklatscher« an den Bahnhöfen 2015

Es war – inmitten einer Phase der bis dato größten Pegida-Aufmärsche – der Sommer gelebter praktischer Solidarität. 2015 fuhr selbst die metaphorische bisher unpolitische Großtante an die Grenzen, um aus Syrien Geflüchtete abzuholen, jubelte an Bahnhöfen und bot Zimmer für private Unterbringungen an. Es war auch der Sommer des Erfolgs migrantischer Kämpfe und des Nachhalls des Arabischen Frühlings, jahrelanger EU-Politiken zum Trotz. Diese hatte zuvor den Ausbau des Binnenmarkts und die damit verbundene Freizügigkeit vorangetrieben und das mit einer rigiden Abschottung nach innen verbunden. Als schließlich selbst Kanzlerin Angela Merkel ihr »Wir schaffen das« verkündete, schienen die Mauern der »Festung Europa« tatsächlich Risse zu bekommen.

Zehn Jahre später sagt Merkel in einer ARD-Dokumentation, sie bereue nichts. Im Gegenteil: »Im Rückblick habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass wir nicht 2012, 3013, als der Bürgerkrieg in Syrien schon tobte, mehr getan haben.« Aber was blieb von ihrem Versprechen? Und wie geht es denjenigen, die damals ankamen?

Neue Zahlen von Forscher*innen des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) lassen wenig Erfreuliches ahnen. 2024 verzeichnete die Antidiskriminierungsstelle des Bundes einen Höchststand an Anfragen aufgrund von rassistischer Diskriminierung. Während sich noch 2019 nur jede dritte geflüchtete Person vor Fremdenfeindlichkeit sorgte, waren es 2023 bereits 54 Prozent. Zugleich rutschte das Gefühl, »willkommen zu sein«, von 83 Prozent (2018) auf 65 Prozent (2023) ab.

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Die DIW-Wissenschaftlerinnen Philippa Cumming und Ellen Heidinger untersuchten die Bereiche Wohnungsmarkt, Arbeit und Arbeitssuche auf Diskriminierungserfahrungen. Demnach berichtete knapp ein Drittel der geflüchteten und zugewanderten Personen, also jene, die seit 2013 in Deutschland sind, aber keinen Asylantrag gestellt haben, von Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt. 14 Prozent der Geflüchteten und 16 Prozent der anderen Zugewanderten nahmen Diskriminierung am Arbeitsplatz wahr. Bei der Suche nach Arbeit fühlten sich 18 Prozent der Geflüchteten sowie 21 Prozent der anderen Zugewanderten benachteiligt.

Eine mögliche Erklärung für den hohen Grad der Diskriminierung am Wohnungsmarkt sei laut DIW, dass private Vermieter derzeit einen großen Spielraum bei der Vermietung von Wohnungen haben. Zugleich sind aber die Diskriminierungserfahrungen im Osten deutlich weiter verbreitet als im Westen, obwohl am dortigen Wohnungsmarkt mehr Leerstand als Mangel herrscht.

»Das Vorhandensein von potenziellem freiem Wohnraum löscht die Möglichkeit von Diskriminierungserfahrungen nicht aus«, erklärt Heidinger auf »nd«-Nachfrage. Zudem könne Diskriminierung gegenüber Geflüchteten im Osten einfach stärker ausgeprägt sein. Das spiegle sich zumindest auch in den anderen untersuchten Lebensbereichen wider. Die DIW-Wissenschaftlerinnen empfehlen als Maßnahme, transparente Bewerbungs- und Vergabeprozesse auszubauen.

Mit dem Rückgang der Willkommenskultur, losgetreten durch die Kölner Silvesternacht 2015/16, und einer Zäsur während der Corona-Pandemie, die politisches Engagement in vielerlei Hinsicht erschwerte, veränderte sich auch die realpolitische Lage. 2023 beschloss die Ampel das Gesetz zur »Verbesserung von Rückführungen«, das zum Beispiel die längere und einfachere Inhaftierung von Ausreisepflichtigen beinhaltete. Die Staatsangehörigkeitsreform 2024, die die Inanspruchnahme von Sozialhilfe bis auf wenige Ausnahmen ausschließt, wird laut DIW wohl die Selektivität in der Einbürgerung nach Bildung und Erwerbstätigkeit stärken und vulnerable Gruppen wie Alleinerziehende, Ältere oder Geringqualifizierte ausschließen.

Dabei haben über 98 Prozent der 2013 bis 2019 eingewanderten Personen inzwischen einen Antrag auf Einbürgerung gestellt oder sind bereits eingebürgert. »Angesichts ihrer dauerhaften Bleibeperspektive in Deutschland stellt sich die Frage, ob der Staat hier nicht wertvolle Integrationschancen verschenkt«, schreibt Jörg Hartmann vom DIW. Zu Beginn der Union-SPD-Koalition setzt die Regierung Merz zudem alles daran, durch die sogenannte »Migrationswende« Migrationserleichterungen wieder zurückzunehmen.

»Angesichts ihrer dauerhaften Bleibeperspektive stellt sich die Frage, ob der Staat wertvolle Integrationschancen verschenkt.«

Jörg Hartmann 
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

Das zunehmend ablehnende gesellschaftliche Klima erschwert die Integration, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zu Beginn dieser Woche feststellte. Eine absurde Entwicklung, zumal die Auswirkungen von 2015 heute deutlich am Arbeitsmarkt wahrnehmbar sind. Die Beschäftigungsquote von im Jahr 2015 zugezogenen Geflüchteten lag laut IAB 2024 bei 64 Prozent, nur sechs Prozent unter dem Niveau der Gesamtbevölkerung. »Angesichts der anfangs ungünstigen Ausgangsbedingungen war ein solcher Annäherungsprozess keineswegs selbstverständlich«, erklärt der IAB-Forschungsbereichsleiter zu Migration, Herbert Brücker.

Die strukturelle Diskriminierung zeigt sich jedoch auch in den Gehältern. Der mittlere Bruttomonatsverdienst aller Geflüchteten bei Vollzeitbeschäftigung lag 2024 bei 2675 Euro. Das sind rund 70 Prozent des Medianverdienstes aller Vollzeitbeschäftigten in Deutschland, der Betrag liegt nur knapp über der Niedriglohnschwelle. Ihre Befunde unterstreichen den Bedarf nach gezielten geschlechtsspezifischen Maßnahmen sowie nach Qualifizierungsmaßnahmen und der Anerkennung von Berufsabschlüssen, so die IAB-Wissenschaftler*innen.

Von 2015 hielt sich aber noch anderes: die zivilgesellschaftlichen Initiativen. Sie traten, wie es das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) schreibt, zum Beispiel im Frühling 2022 wieder zur Unterstützung Geflüchteter aus der Ukraine in Erscheinung. Damals waren jene Orte »besonders handlungsfähig, in denen aus 2015 gelernt worden und eine dauerhafte Vernetzung gelungen war«.

So hat sich nach dem Sommer 2015 die Versorgung mit privaten Unterkünften zu »einem Massenphänomen« entwickelt, so das Dezim: »Alleine auf der digitalen Plattform #UnterkunftUkraine haben sich im Zeitraum von März bis September 2022 über 150 000 Personen registriert.« Dabei geht es den Initiativen bis heute nicht darum, staatliche Defizite zur Versorgung Geflüchteter auszugleichen, sondern dem Grenzregime aktiv entgegenzuwirken. Wie im Sommer der Migration.

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