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Staatskapitalismus oder Sozialismus?
»Chinas gelenkte Marktwirtschaft«: Rainer Land analysiert die Mechanismen eines Wirtschaftswunders
Noch in den 70er Jahren war China eines der ärmsten Länder der Welt. Wie konnte es gelingen, den Hunger zu besiegen? Mehr noch, zu einer wirtschaftlichen Weltmacht zu werden? Und das unter Führung einer Kommunistischen Partei!
Das Buch von Rainer Land geht diesen Fragen auf eine grundsätzlichere Weise nach, als man es vielleicht erwartete. Es ist kein Augenzeugenbericht, obwohl der Autor das Land gut kennt, sondern eine Analyse, die weit über China hinausgreift, an DDR und BRD sowie an die heutige krisenhafte Situation in der Welt denken lässt. Woran die Planwirtschaft krankte und wie die Marktwirtschaft immer wieder in Krisen gerät – man könnte meinen, Bescheid zu wissen, wenn man in der DDR eine Hochschule besucht hat. Egal in welcher Fachrichtung, Politische Ökonomie des Sozialismus und des Kapitalismus gehörten regulär zum Grundstudium. Wobei der Finanzmarktkapitalismus von heute damals erst im Entstehen war.
Rainer Land hat an der Humboldt-Universität Berlin Philosophie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Warum er 98 Seiten ökonomische Theorie braucht, bevor er zu den chinesischen Verhältnissen kommt, kann man sich vielleicht fragen, bevor man dieses erste Kapitel gelesen hat. Keinesfalls sollte man es überblättern, denn Aha-Erlebnisse sind garantiert. Auch Fragen tauchen auf.
Der Umbau der chinesischen Volkswirtschaft hin zu einer Marktwirtschaft, die auch noch sozialistisch sein soll, war und ist mit vielen Risiken behaftet. Es war ein Weg, der von 1978 bis heute mehrere Etappen brauchte, eine schwere Wirtschafts- und Gesellschaftskrise 1986 bis 1992 eingeschlossen. Einen Reformprozess »von oben« einzuleiten, forderte Meinungsverschiedenheiten heraus.
Rainer Land verweist auf »experimentelle Such- und Selektionsprozesse«, die »bis heute weiterentwickelt« werden, und erklärt die besondere Bedeutung der chinesischen »Sonderwirtschaftszonen«, die »das entscheidende industrielle Experimentierfeld für den Übergang zur Marktwirtschaft« waren und heute zunehmend in »die neuen Paradigmen Hochtechnologie, Innovation, Binnenmarkt und Belt and Road (Seidenstraße) eingebunden« sind. Das System der »zentralen Planung und Leitung der Staatsbetriebe musste abgebaut bzw. in ein indirektes Lenkungssystem umgebaut werden«. Dass 85 Prozent der Ausgaben des Landes von lokalen Regierungen kontrolliert werden, war mir neu. Aber wie verhindert man da persönliche Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit?
Vom Billiglohnland als »Werkstatt der Welt« will China hin zu einer innovationsbasierten wirtschaftlichen Entwicklung mit Zentrierung auf den Binnenmarkt. Rainer Land zeigt auf, welche Rolle Banken dabei spielen. Auf den »Seidenstraßenfonds« und den »China-Afrika-Entwicklungsfonds« geht er ein, beschäftigt sich mit Grund und Boden, Immobilien und der Immobilienkrise, welche die Regierung zu drastischen Gegenmaßnahmen zwang. Er betrachtet Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur und führt die Spezifik der chinesischen Finanzmärkte vor Augen, die vornehmlich der Realwirtschaft zu dienen haben. Seit 1978 ist das Pro-Kopf-Einkommen auf das 38-Fache angewachsen. Die gestiegene Jugendarbeitslosigkeit hat auch »mit den Ansprüchen einer hoch qualifizierten neuen Generation« zu tun.
Auf dem Weg zu einem »Sozialismus chinesischer Prägung«: Was für eine gigantische Aufgabe hat sich die KP Chinas da gestellt. Alles kann aus dem Ruder laufen, wenn sie nicht die Hegemonie behält. Da scheut Rainer Land auch den Begriff Diktatur nicht, welche freilich immer auf die Zustimmung der Bevölkerung setzen muss. »Demokratie bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass zwischen verschiedenen Parteien, deren Programmen und Personen gewählt wird, sondern dass ein Diskurs über die Ziele wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung geführt wird.« Da seien Diskussionen »nicht nur erlaubt, sondern erwünscht«. Aber es gibt »rote Linien«.
Dass die KPCh und der chinesische Staat »über eine sehr qualifizierte und gut organisierte Staatsklasse und Beamtenschicht« verfügen, ist nicht zu unterschätzen. Aber reicht eine entsprechende Erziehung, damit egoistische Interessen gegenüber dem Allgemeinwohl nicht die Oberhand gewinnen? Kann eine »pädagogisch-ideologische Durchdringung der Gesellschaft« auf Dauer Entfremdung verhindern? Muss es unter Bedingungen eines neu entfachten Kalten Krieges auch unweigerlich zu Verhärtungen nach innen kommen?
Wenn von Sozialismus die Rede ist, bleibt doch »die freie und universelle Entwicklung der Individuen« ein Ziel, wie Rainer Land betont. Wobei er zugibt, dass vieles noch »Zukunftsmusik« ist: »Die konkreten Entwicklungsziele hängen vom Entwicklungsstand ab und würden sich im Laufe der Zeit fortwährend ändern.«
Rainer Land: Chinas gelenkte Marktwirtschaft. Hintergründe eines Booms. Promedia, 232 S., br., 23 €.
»Literatursalon im FMP 1« mit Rainer Land, 2. September, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin.
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