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Tempo 30 in Berlin: Mit Vollgas rückwärts
Senat beschließt Ende zahlreicher Tempo-30-Zonen
Trotz anhaltender Kritik auch aus Koalitionsreihen will der Senat mehrere Straßenabschnitte, auf denen bislang Tempo 30 galt, zu Tempo-50-Zonen erklären. Einen entsprechenden Beschluss fasste der Senat am Dienstag. Demnach soll auf insgesamt 20 Streckenabschnitten künftig wieder Tempo 50 gelten. Auf 16 dieser 20 Abschnitte soll allerdings eine Tempogrenze von 30 Stundenkilometern in der Nacht im Zeitraum 22 bis 6 Uhr gelten. Auf weiteren elf Straßenabschnitten soll Tempo 30 ganztägig bestehen bleiben.
Hintergrund der Entscheidung ist – zumindest offiziell – der Luftreinhalteplan des Senats. Der sieht vor, dass auf Straßenabschnitten Tempo 30 eingeführt werden muss, wenn bestimmte Grenzwerte für Stickstoffdioxid und andere Schadstoffe überschritten werden. Bei der letzten Fortschreibung des Luftreinhalteplans wurden noch 41 Streckenabschnitte an Hauptstraßen als solche Zonen identifiziert.
Doch nun sollen neue Messungen gezeigt haben, dass sich die Luftqualität an den meisten der betroffenen Streckenabschnitte deutlich verbessert habe. Der Grund für die Tempo-30-Zonen entfällt damit. Nur an sieben der 41 ursprünglichen Bereiche soll Tempo 30 aus Gründen der Luftreinhaltung beibehalten werden. An weiteren Abschnitten soll Tempo 30 allerdings »aus verschiedenen Sicherheitsgründen« bestehen bleiben, wie es in einer Pressemitteilung des Senats heißt.
Hochfrequentierte Schulwege gehören offenbar nicht dazu. Der Bund hatte zuletzt in der Straßenverkehrsordnung die Möglichkeit geschaffen, auf stark frequentierten Schulwegen die Regelgeschwindigkeit zu reduzieren. Daraufhin ließ der Senat an 25 Streckenabschnitten prüfen, ob diese als hochfrequentierte Schulwege gelten könnten. Dienstkräfte beobachteten zu Schulanfang und -ende, wie viele Schüler sich auf den Straßenabschnitten bewegten. Die Prüfung ergab allerdings in keinem Fall, dass die Richtgeschwindigkeit reduziert werden muss.
Grund für die nächtliche Geschwindigkeitsbegrenzung auf 16 Straßenabschnitten ist der Lärmschutz. In den betroffenen Abschnitten sei die Lärmbelastung für die Anwohner hoch und keine alternativen Lärmminderungsmaßnahmen möglich, heißt es in der Pressemitteilung des Senats. »Leiserer Verkehr in der Nacht« sei das Motto, unter dem die Maßnahme liefe.
Beschlossen werden hätte der Luftreinhalteplan eigentlich schon vor zwei Wochen – doch der Senat verschob den Tagesordnungspunkt zunächst. Der Grund: Aus der SPD-Fraktion gab es Kritik an dem Vorhaben, an zahlreichen Streckenabschnitten wieder zu Tempo 50 zurückzukehren. Vor dem Senatsbeschluss sollte es zunächst zu Gesprächen kommen, so die damalige Aussage.
»Tempo 30 ist eine Wunderwaffe, um Menschenleben zu schützen, die darüber hinaus schnell umsetzbar ist und wenig kostet.«
Katharina Wolf BUND
Ausgeräumt wurden die Bedenken allerdings nicht, obwohl der Beschluss nun gefallen ist. »Diese Rückabwicklung halte ich nach wie vor für nicht richtig«, sagte Tino Schopf, der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, am Dienstagmorgen dem RBB. »Ich halte sie sogar für gefährlich.« In dem Interview stellte er infrage, ob die Sicherheitsprüfung ohne politischen Einfluss erfolgt sei. Er führte die Stromstraße in Moabit an, in deren näherer Umgebung sieben Schulen lägen. Trotzdem sei keine Gefährdung festgestellt worden. »Dazu fällt mir nichts mehr ein«, so Schopf. »Verkehrssicherheit ist keine Frage eines Bauchgefühls.«
»Es gab noch Fragen seitens der SPD-Fraktion«, sagte Senatssprecherin Christine Richter am Dienstag im Anschluss an die Senatssitzung. »Diese Fragen sind umfänglich von der Verkehrsverwaltung beantwortet worden.« Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) weilte zum Zeitpunkt des Beschlusses im Urlaub. An der ursprünglichen Vorlage habe es »keinerlei« Änderungen gegeben, der Beschluss im Senat sei einstimmig gefällt worden.
Kritik an dem Vorhaben gibt es auch von Verbänden. »Keine Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr lassen sich nur durch sichere Infrastruktur und reduzierte Geschwindigkeiten erreichen«, wird die BUND-Funktionärin Katharina Wolf in einer Pressemitteilung zitiert. Bonde gebe vor, sich streng an Gesetze zu halten, ignoriere parallel aber Vorgaben im Mobilitätsgesetz zu Radwegen. »Das ist ideologische Politik auf Kosten von Menschenleben, Klima und Natur«, so Wolf.
Tempo 30 sei »eine Wunderwaffe, um Menschenleben zu schützen, die darüber hinaus schnell umsetzbar ist und wenig kostet«. Der internationale Vergleich zeige, dass Geschwindigkeitsreduzierung der effizienteste Weg sei, um die Zahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr zu reduzieren.
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