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Therapieziel: Weniger Migränetage

Neurologen kritisieren Unterversorgung von Migränepatienten mit modernen Medikamenten

Eine Migräneattacke bringt in der Regel starke Einschränkungen im Alltag mit sich.
Eine Migräneattacke bringt in der Regel starke Einschränkungen im Alltag mit sich.

An diesem Freitag wurde mit dem Welt-Kopfschmerztag wieder um Aufmerksamkeit für die weit verbreiteten neurologischen Erkrankungen gekämpft. Der Tag ist vorbei – aber Menschen, die an Migräne leiden, wachen an vielen Tagen des Jahres mit Schmerzen auf. Ihnen ist übel, Licht, Lärm und Bewegung machen alles nur noch schlimmer. Sie wissen an einem solchen Morgen, dass sie den kommenden Tag eigentlich streichen können. Weder sind sie arbeitsfähig noch wird es gut gelingen, alltägliche Pflichten zu erfüllen, geschweige denn, Freude am Leben zu haben.

Kopfschmerz- oder Migränetag kann für Millionen Menschen auch in Deutschland jeden Tag sein. Die Angst vor der nächsten Attacke macht einen Teil der Belastung aus. Migräne mit ihren anfallsartigen intensiven Schmerzen kann vier bis 72 Stunden anhalten. Etwa ein Fünftel der Betroffenen hat vor der eigentlichen Attacke eine sogenannte Aura, es kommt zu Sehstörungen wie Blitzen oder Flimmern.

Chronische Migräne haben bis zu 1,66 Millionen Menschen in Deutschland.

Wenn der Kopfschmerz über mehr als drei Monate an 15 oder mehr Tagen im Monat auftritt sowie an mindestens acht Tagen davon die Merkmale eines Migränekopfschmerzes zeigt, dann ist von einer chronischen Migräne die Rede. Das betrifft bis zu zwei Prozent der Bevölkerung und damit etwa 1,66 Millionen Menschen in Deutschland.

Das Therapieziel besteht bei dieser Diagnose darin, die Zahl der Migränetage pro Monat zu reduzieren. Die Möglichkeiten der nichtmedikamentösen Prophylaxe seien hier nicht vergessen: Entspannungstechniken, Ausdauersport oder das Vermeiden bestimmter Lebensmittel können schon zu einer Besserung beitragen, auch eine gute Information über die Krankheit ist angeraten. Oft reicht das alles aber nicht aus. Eine Kombination solcher Methoden mit Medikamenten scheint am effektivsten zu sein.

Bei der Medikation für die Prophylaxe, also die Vorbeugung, änderte sich in den letzten Jahren jedoch einiges. Bis 2018 standen hier nur Medikamente zur Verfügung, die eigentlich für andere Erkrankungen indiziert sind, etwa Betablocker (Bluthochdruck), ein Antiepileptikum, ein Antidepressivum oder bei chronischer Migräne ein Botulinomtoxin. Das Problem bei fast all diesen für Migräne unspezifischen Mitteln: teils starke Nebenwirkungen und auch viele Kontraindikationen, das heißt, andere Erkrankungen verbieten den Einsatz.

Nun sind aber seit 2018 wirksame und gut verträgliche Prophylaktika verfügbar. Es handelt sich dabei um Antikörper, die den wichtigsten Botenstoff bei Migräne blockieren, nämlich das Neuropeptid CGRP. Die ersten vier zugelassenen Medikamente dieser Gruppe müssen regelmäßig, aber höchstens monatlich injiziert werden und sind recht nebenwirkungsarm. Seit diesem Jahr gibt es zudem auch für Patienten in Deutschland die ersten beiden Antikörper in Tablettenform. Der frühe Einsatz dieser Mittel kann eine Chronifizierung der Migräne verhindern. Damit lassen sich viele körperliche, psychische und soziale Beeinträchtigungen vermeiden.

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Allerdings ist es mit der Verschreibung dieser Mittel nicht so einfach – beziehungsweise hat sich auch hier einiges für Patienten verbessert, aber die genauen Konditionen sind noch nicht Allgemeingut. Zugelassen sind die Antikörper zur Prophylaxe für Erwachsene mit mindestens vier Migränetagen pro Monat. Sie sind besonders empfohlen, wenn die unspezifischen, länger bekannten Mittel unwirksam oder nicht verträglich sind. Obwohl die guten Ergebnisse der Antikörper sowohl durch Studien sowie noch deutlicher in der Anwendung bei realen Patienten bekannt sind, bekommen noch nicht alle Betroffenen die neuen Medikamente.

Schon etwas geändert hat sich bei der Verschreibung des Antikörpers Erenumab im Oktober 2022. Denn eine Studie hatte gezeigt, dass Erenumab bei mehr als 50 Prozent der Probanden eine 50-prozentige Reduktion der Migränetage pro Monat bewirkte – im Gegensatz zu den Probanden, die nur die unspezifischen, älteren Prophylaktika einnahmen. Von diesen erreichten knapp 17 Prozent ebenfalls eine Halbierung ihrer monatlichen Migränetage. In Erwägung dessen wurde der frühe Einsatz von Erenumab durch die Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenkassen erleichtert.

Die Kosten für die Antikörper, die gespritzt werden müssen, liegen pro Jahr zwischen 3800 und 5400 Euro (Angaben von 2023). »Die Diskussion darf sich aber nicht nur kurzfristig auf Arzneimittelkosten beschränken, sondern muss die Gesamtkosten der Erkrankung bei den vorrangig berufstätigen Patientinnen und Patienten berücksichtigen«, merkt hier Gudrun Goßrau, Generalsekretärin der DMKG, an.

Personen, die mit den moderneren Therapien behandelt wurden, haben laut einer Register-Auswertung der DMKG schon einen langen Vorlauf mit den älteren unspezifischen Medikamenten. Noch ist es also so, dass die neuen Mittel erst verschrieben werden, wenn die Krankheit bereits lange andauert, chronisch ist und mehr schwere Kopfschmerztage pro Monat verzeichnet werden. Diese Patientinnen und Patienten sind seltener berufstätig und haben häufiger zusätzlich psychische Begleiterkrankungen wie Depressionen. Ein früherer Einsatz der Antikörper würde die mit einem schwereren Verlauf verbundenen Folgekosten und das entsprechende Leiden deutlich reduzieren.

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