- Kultur
- Türkei
Drei Tage im September
Vor 70 Jahren: Die Vertreibung der griechischen Minderheit aus Istanbul
Der Schriftsteller Petros Markaris war siebzehn, als es zu den blutigen Überfällen auf ethnische Minderheiten in Istanbul kam. Markaris wohnte während der Krawalle am 6. und 7. September 1955 auf der Insel Heybeliada (auf Griechisch Chalki). Dort hatten seine Eltern ein Sommerhaus. Auf der Insel lebte »eine bunte Mischung von kleinbürgerlichen Sommerfrischlern, Griechen, Armenier und Juden«, heißt es in seinen Erinnerungen »Wiederholungstäter« (2008). Sein Vater war Armenier, seine Mutter Griechin. Auf der Insel sei es ruhig geblieben, erinnert sich der Schriftsteller, »die Prinzeninseln wurden von den Krawallen verschont«. Doch sein Vater sei alarmiert gewesen und am nächsten Morgen nach Istanbul gefahren, »um festzustellen, ob sein Büro und unsere Wohnung attackiert worden waren«. Dort war soweit alles in Ordnung, aber die Stadt: ein Trümmerhaufen.
Markaris fährt einen Tag später nach Istanbul und sieht »das Ausmaß des Desasters. Die Hälfte der Geschäfte auf der zentralen Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, in Beyoglu, war völlig zerstört«. Eine Woche später fängt die Schule wieder an. Seine türkischen Mitschüler verlieren kein Wort über die Pogrome. Nur eine junge Lehrerin, die türkische Literatur unterrichtet, sei in einer Pause zu ihm gekommen und habe geflüstert: »Ich werde dir nur eines sagen. Ich schäme mich!«
Nächte der Schande
Der türkische Journalist Can Dündar, seit 2016 im Berliner Exil, fasst in seinem Geschichtsabriss »Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen« (2023) einige Daten zusammen: In der Nacht zum 6. September 1955 sei ein Sprengsatz in den Garten des Geburtshauses des Republikgründers Atatürk in Saloniki geworfen worden. Keine große Sache, eher eine symbolische Attacke, ein paar Scheiben gingen zu Bruch. Später kam heraus, dass der Täter Verbindungen zum türkischen Geheimdienst hat und ein beteiligter türkischer Brigadegeneral spricht vom »Sonderkrieg«.
»Die damalige türkische Regierung unter Adnan Menderes beschuldigte sofort die griechische Regierung«, erinnert sich Markaris, »diese wies jedoch jede Beteiligung vehement zurück.« Militaristische Nationalisten in der Türkei nutzten die Explosion für ihre Hetze, vergifteten das Klima, riefen zur Attacke. »Eine der schändlichsten Nächte der türkischen Geschichte stand bevor«, urteilt Dündar. 3000 Häuser, 5000 Geschäfte und 60 Schulen der griechischen, armenischen und jüdischen Minderheiten wurden überfallen und geplündert. Das Kriegsrecht wurde verhängt, Panzer fuhren auf, Istanbul glich einem Schlachtfeld. 15 Tote, 500 Verwundete – »vor allem aber war die jahrhundertelange Tradition des Zusammenlebens verwundet«, schreibt Dündar.
Tausende Griechen flohen: Von 90 000 Personen schrumpfte die Gemeinde »innerhalb von anderthalb Jahren auf 30 000, später noch weiter auf 5000«. Neureiche aus Anatolien übernahmen Wohnungen und Geschäfte zu Spottpreisen, ein Wendepunkt auch in der Geschichte der Türkei: »Es begann die Herrschaft der Provinz«, urteilt Dündar.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
»Drei Tage«, heißt eine 90 Seiten umfassende Erzählung von Markaris im Band »Der Tod des Odysseus« (2016). Sie beginnt am Montag, dem 5. September 1955, und endet mit einem Epilog am Donnerstag, dem 8. September 1955. Darin skizziert der Autor die Vorgeschichte der Ausschreitungen: die Nachwirkungen der »Kleinasiatischen Katastrophe« von 1922; das tief verwurzelte Misstrauen zwischen Griechen und Türken; die aus dem Genozid von 1915 rührende Furcht der Armenier; der »Zypernkonflikt«; die gewalttätigen nationalistischen Ausdünstungen; die vergiftende Rolle der Kirchen; wirtschaftliche Probleme und hinter den Kulissen politische Rankünen. Am 6. September, kurz nach Mitternacht, kommt es zu einer Bombenexplosion in Thessaloniki. »Es wird Krawall geben«, warnt ein türkischer Kommissar in Istanbul. Am Nachmittag brüllen Zeitungsverkäufer die Schlagzeilen der Boulevardpresse heraus. Und dann: »ein dumpfes Brausen«, ab halb sechs das Bersten von Schaufensterscheiben. »Eine Katastrophe von biblischen Ausmaßen!«, schreit eine griechische Augenzeugin. Um dann, von Dienstag auf Mittwoch, »die Raupenketten der Panzer«.
Krawalle oder Pogrom?
»Zwei Tage lang wurde Istanbul für alle Nichtmuslime in eine Hölle verwandelt«, erinnert sich Orhan Pamuk, der türkische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger von 2006. In seinem Buch »Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt« (2003) heißt es: »Am Morgen nach jener Nacht, in der jeder Nichtmuslim Gefahr lief, gelyncht zu werden, war die Istiklal-Straße in Beyoglu übersät mit den Überresten von Dingen, die die Plünderer aus den zerstörten Läden nicht hatten mitschleppen können, aber dennoch genüßlich ruiniert hatten. Auf Stoffen, Teppichen und Kleidern in allen Farben und Größen lagen ramponierte Kühlschränke, Radioapparate und Waschmaschinen, allesamt Dinge, die in der Türkei gerade erst aufkamen …« Später sei herausgekommen, »daß staatliche Agitatoren dem Pöbel in Aussicht gestellt hatten, es dürfe nach Herzenslust geplündert werden«.
Das, was Can Dündar als »Eigentümerwechsel des Kapitals in einer einzigen Nacht für einen Spottpreis« bezeichnet, heißt im Kriminalroman »Die Kinderfrau« von Markaris »unrechtmäßige Bereicherung«. Er schreibt von »Krawallen« und »Tumulten«, an einer Stelle auch vom »Septemberpogrom«. Was war das nun, frage ich den Schriftsteller persönlich? »Türken bezeichnen die Ereignisse bis heute als Krawalle«, antwortet er, »alle anderen nennen sie Pogrome.«
Der verantwortliche türkische Ministerpräsident Adnan Menderes (1899–1961) genießt bis heute in der Türkei »sehr hohes Ansehen«, heißt es auf Wikipedia. In den 1980er Jahren sind Straßen und der internationale Flughafen von Izmir nach ihm benannt worden, in Istanbul wurde ein monumentales Mausoleum, das Adnan Menderes Anit Mezar, errichtet. Auch eine Universität erhielt seinen Namen.
Die Ursachen für Hass und weitere Scharmützel sind bis heute nicht beseitigt, zwischen der Türkei und Griechenland brodelt es weiterhin.
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.