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Myanmar: »Die humanitäre Lage ist erschreckend«
Die Militärjunta in Myanmar will trotz Bürgerkrieg Scheinwahlen abhalten
Kürzlich hat das Regime den 28. Dezember als Wahltermin angekündigt. Die bis zum Putsch vom Februar 2021 regierende Nationale Liga für Demokratie (NLD) und andere demokratische Parteien sind ausgeschlossen. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?
Ich sehe darin einen Versuch der Junta, sich Legitimität zu verschaffen – und eine politische Falle. Es wird offensichtlich keine freien oder fairen Wahlen geben. Wir kennen dieses Szenario schon. In der Vergangenheit inszenierte das Militär Wahlen, deren Ausgang von Anfang an kontrolliert wurde. Auch diesmal wollen sie der Außenwelt das Bild vermitteln, dass die Demokratie zurück sei, und Länder wie die Volksrepublik China signalisieren bereits ihre Anerkennung. Das ist gefährlich, denn viele südostasiatische Regierungen dürften stillschweigend folgen. Indien pflegt bereits enge Beziehungen zu den Generälen.
Ein groß angelegter Bürgerkrieg verwüstet das Land. Die Junta-Armee (Tatmadaw) hat inzwischen ein spürbares Personalproblem. Seit dem vorigen Jahr läuft eine Rekrutierungskampagne, um junge Menschen, Männer wie Frauen, in die Armee zu zwingen. Was können Sie dazu sagen?
Die Zwangsrekrutierung ist ein verzweifelter Schritt des Militärregimes. Sie hat landesweit eine Welle der Angst ausgelöst. Für mich und meine Altersgenossen bedeutet dieser Schritt eine direkte Bedrohung unseres Lebens; viele Jugendliche werden vor unmögliche Entscheidungen gestellt. Ihnen wird gesagt, sie müssten einem Militär beitreten, das für Gräueltaten an der eigenen Bevölkerung, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bekannt ist. Sie könnten gezwungen werden, Kriegsverbrechen zu begehen oder gegen Freunde, Nachbarn oder sogar Familienmitglieder zu kämpfen. Rekruten könnten als menschliche Schutzschilde benutzt werden. Es gibt Fälle, in denen Rekruten in den Ausbildungslagern der Junta gestorben sind. Der psychische Tribut ist immens. Junge Leute leben in ständiger Angst, da sie wissen, dass sie jederzeit abgeholt werden könnten. Sollte es der Junta gelingen, die Angst als Waffe einzusetzen und diese Zwangsrekrutierten effektiv in ihre militärischen Strukturen zu integrieren, könnte sie ihre Truppenstärke vorübergehend stärken. So entsteht eine neue Schicht unfreiwilliger Soldaten, die nicht aus Loyalität, sondern vor allem aus Angst vor Bestrafung kämpfen.
Nolan (Name aus Sicherheitsgründen geändert) ist ein Demokratie-Aktivist, der im Untergrund lebt. Als die Putschisten am 1. Februar 2021 die legitime Regierung der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi absetzten, besuchte er noch die High School in Yangon. Wie viele Angehörige der Generation Z protestierte er im Rahmen der Bewegung des Zivilen Ungehorsams (CDM) gegen die neuen Machthaber auf der Straße. Wegen verschärfter Verfolgung ist er später untergetaucht. Zusammen mit Freunden aus aktivistischen Kreisen trat Nolan der im Dezember 2021 gegründeten Organisation Enemy Air Route Channel (EAR) bei. Sie hat ein Frühwarnsystem aufgebaut, um Zivilisten vor den intensivierten Luftangriffen des Regimes zu warnen.
Der Bürgerkrieg mit Junta-Kräften, demokratischem Widerstand und bewaffneten Gruppen der vielen ethnischen Minderheiten (EAO) dauert nun schon vier Jahre. Was können Sie über die humanitäre Lage im Land sagen?
Sie ist erschreckend. Selbst in den Großstädten ist das Leben bereits hart, mit Angst vor Verschleppung und Zwangsrekrutierung, Inflation und Überwachung. In den ländlichen Gebieten ist es noch viel schlimmer: Die lokalen Gemeinschaften sind ständig der Gefahr ausgesetzt, bombardiert, überfallen, massakriert zu werden. Die Dörfer werden oft einfach niedergebrannt. Immer wieder werden Menschen vertrieben, leben im Dschungel ohne sauberes Wasser, Nahrung, Medikamente oder Obdach. Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und wirtschaftlichen Grundlagen ist fast unmöglich. Selbst in den Flüchtlingslagern besteht weiterhin die Gefahr, von der Luftwaffe bombardiert zu werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Junta im Rahmen ihrer »Vier-Kürzungen«-Strategie den Transport bestimmter Güter in Regionen, wo die Widerstandskräfte aktiv sind, eingeschränkt hat. Dies bedeutet, dass Medikamente, Elektronik, Lebensmittel, Solarenergie, Powerbanks, Moskitonetze, Damenhygieneartikel und andere wichtige Gebrauchsgüter nur schwer in Gebiete außerhalb von Yangon und Mandalay zu transportieren sind.
Tausende Menschen sitzen als politische Gefangene hinter Gittern. Die Haftbedingungen waren schon früher hart. Was wissen Sie über die Situation in den berüchtigten Knästen?
Was in den Gefängnissen und Verhörzentren der Junta geschieht, ist einer der schrecklichsten, unmenschlichsten und grausamsten Aspekte dieser Krise. Häftlinge und politische Gefangene werden ihrer Würde beraubt, ihre Körper und ihr Geist sind systematischer Gewalt und Folter ausgesetzt. Laut der Gefangenenhilfsorganisation Assistance Association for Political Prisoners (AAPP) befanden sich am 29. August noch 22 356 politische Gefangene in Haft, und es gibt 7159 nachweislich getötete Personen. Verhaftete sind meist brutalen Bedingungen ausgesetzt, darunter Zwangsarbeit, sexuelle Gewalt, routinemäßige Folter während der Verhöre, ebenso extreme Verzögerungen oder völlige Verweigerung medizinischer Behandlung. Am 3. Januar 2022 berichtete Myanmar Now über die Bedingungen im Verhörzentrum des Mandalay Palace und gab damit Aufschluss über die Foltermethoden. Sicherheitskräfte stoßen den festgenommenen Demonstranten Bambusstöcke in den After, während sie ihnen Fragen stellen. Laut dem Political Prisoners Network Myanmar (PPNM) wurde Wai Moe Naing, Vorsitzender der Studentenvereinigung der Monywa-Universität, bei seiner Ankunft im Obo-Gefängnis von Mandalay brutal mit einer Metallstange auf den Kopf geschlagen, was bis zur Bewusstlosigkeit führte. Trotzdem erhielt er weder medizinische Hilfe noch wurde er ins Gefängniskrankenhaus verlegt. Am 21. Juli starb Wut Yee Aung, Mitglied des zentralen Exekutivkomitees der Studentenvereinigung der Dagon-Universität, an Kopfverletzungen und möglicherweise einem Hirntrauma, das sie laut Berichten bei Folterungen während eines Verhörs im Insein-Gefängnis in Yangon erlitten hatte.
Viele Länder haben das Militärregime von General Min Aung Hlaing unmittelbar nach dem Putsch sanktioniert. Die ASEAN hat hochrangige Vertreter der Junta-Regierung von Gipfeltreffen ausgeschlossen, verzichtet aber auf direkte Kontakte zur Regierung der Nationalen Einheit (NUG) des demokratischen Widerstands. Unternimmt die internationale Gemeinschaft genug, um das Regime zu isolieren?
Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die internationale Gemeinschaft genug tut. Ja, die Verurteilung der Junta durch viele Länder, die Sanktionen und der teilweise Ausschluss aus dem Verbund der ASEAN senden eine symbolische Botschaft. Doch in der Praxis hat das Regime noch immer Zugang zu Waffen, Geld, Ressourcen und internationalen Verbindungen. Laut Justice for Myanmar machen mehrere in der ASEAN ansässige Unternehmen noch immer Geschäfte mit der Junta und verschaffen ihr Einnahmen und Ressourcen über ihre Konglomerate wie Myanmar Economic Corporation (MEC) und Myanma Economic Holdings Limited (MEHL), staatliche Unternehmen wie Myanma Oil and Gas Enterprise (MOGE) und Myanma Timber Enterprise (MTE) sowie durch Einnahmen aus dem Land, das vom Büro des Generalquartiermeisters der myanmarischen Armee kontrolliert wird. Das vietnamesische Staatsunternehmen Viettel Global Investment ist Partner der MEC im Mytel-Telekommunikationsnetz, verschafft der Junta neben Einnahmen auch Überwachungsmöglichkeiten. Der malaysische Ölfeld-Dienstleister ENRA Group stellt Kondensatlager- und -entladeeinrichtungen für das Yetagun-Gasprojekt bereit. Solche Geschäftsbeziehungen untergraben klar die Sanktionen und diplomatischen Bemühungen. Deshalb ist ein umfassenderer und robusterer Ansatz notwendig. Er muss dies unterbinden, zugleich humanitäre Zugangsregelungen ins Land schaffen, die die Kontrolle der Junta umgehen und gleichzeitig die Demokratiebewegung aktiv unterstützen.
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