Schnipsel, frische Schnipsel!

Rein hippologisch sind wir vom Pferd gefallen – und andere Erkenntnisse

  • Kurt Tucholsky
  • Lesedauer: 5 Min.
Bei einem deutschen Zeitungsartikel muss man sich fragen: »Was verschweigt er?« und »Wer hat ihm dafür auf die Schulter geklopft?«
Bei einem deutschen Zeitungsartikel muss man sich fragen: »Was verschweigt er?« und »Wer hat ihm dafür auf die Schulter geklopft?«

Ein Leser hat’s gut: Er kann sich seine Schriftsteller aussuchen.

Bert Brecht hat einen schönen Dreh gefunden: das kleine Einmaleins in getragenem Sing-Sang vorzulesen, wie wenn es die Upanishaden wären. Banalitäten feierlich aufsagen: Das bringt vielen Zulauf.

Es war einmal ein Vertrag zwischen einer Filmgesellschaft und einem Autor, der wurde von der Gesellschaft anständig und sauber erfüllt. Das war kurz vor Erfindung der Fotografie.

Bei einem französischen Zeitungsartikel muss man sich immer fragen: »Was will der Mann?« und: »Wer hat ihn dafür bezahlt?« Bei einem deutschen Zeitungsartikel muss man sich fragen: »Was verschweigt er?« und »Wer hat ihm dafür auf die Schulter geklopft?«

Du musst über einen Menschen nichts Böses sagen. Du kannst es ihm antun – das nimmt er nicht so übel. Aber sage es ihm nicht. Er ist in erster Linie eitel, und dann erst schmerzempfindlich.

Nichts verächtlicher, als wenn Literaten Literaten Literaten nennen.

Lass dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: »Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!« Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.

Man sollte gar nicht glauben, wie gut man auch ohne die Erfindungen des Jahres 2500 auskommen kann!

In Spanien gründeten sie einmal einen Tierschutzverein, der brauchte nötig Geld. Da veranstaltete er für seine Kassen einen großen Stierkampf.

Rein hippologisch betrachtet ist er vom Pferd gefallen.

Das Christentum ist eine gewaltige Macht. Dass zum Beispiel protestantische Missionare aus Asien unbekehrt wieder nach Hause kommen – das ist eine große Leistung.

Ein Mitarbeiter dieser Blätter hatte einst einen sonderbaren Traum. Er träumte, dass er sein Abitur noch einmal machen müsste, und das Thema zum deutschen Aufsatz lautete: »Goethe als solcher«.

Du bekommst einen Brief, der dich maßlos erbittert? Beantworte ihn sofort. In der ersten Wut. Und das lass drei Tage liegen. Und dann schreib deine Antwort noch mal.

»Was fällt Ihnen ein! Ich habe für einen Bandwurm und drei unmündige Kinder zu sorgen!«

Der Pessimist. »Ich werde also eines Tages sterben. Natürlich – das kann auch nur mir passieren!«

Jeder historische Roman vermittelt ein ausgezeichnetes Bild von der Epoche des Verfassers.

Da erzählen sich die Leute immer so viel von Organisation (sprich vor lauter Eile: »Orrnisation«). Ich finde das gar nicht so wunderherrlich mit der Orrnisation. Mir erscheint vielmehr für dieses Gemache bezeichnend, dass die meisten Menschen stets zweierlei Dinge zu gleicher Zeit tun. Wenn einer mit einem spricht, unterschreibt er dabei Briefe. Wenn er Briefe unterschreibt, telefoniert er. Während er telefoniert, dirigiert er mit dem linken Fuß einen Sprit-Konzern (anders sind diese Direktiven auch nicht zu erklären). Jeder hat vierundfünfzig Ämter. »Sie glauben nicht, was ich alles zu tun habe!« – Ich glaubs auch nicht. Weil das, was sie da formell verrichten, kein Mensch wirklich tun kann. Es ist alles Fassade und dummes Zeug und eine Art Lebensspiel, so wie Kinder Kaufmannsladen spielen. Sie baden in den Formen der Technik, es macht ihnen einen Heidenspaß, das alles zu sagen; zu bedeuten hat es wenig. Sie lassen das Wort »betriebstechnisch« auf der Zunge zergehen, wie ihre Großeltern das Wort »Nachtigall«. Die paar vernünftigen Leute, die in Ruhe eine Sache nach der andern erledigen, immer nur eine zu gleicher Zeit, haben viel Erfolg. Wie ich gelesen habe, wird das vor allem in Amerika so gemacht. Bei uns haben sie einen neuen Typus erfunden: den zappelnden Nichtstuer.

Sommer mit Tucholsky

Sommer, wie geht das? Lebenslust, Liegestuhl, und eine leichte Sorge vor dem Herbst... Kann man die Sonne in Zeitungstexten einfangen? Kurt Tucholsky (1890–1935) konnte. Einige seiner schönsten, immergrünen Artikel begleiten uns durch den Sommer 2025.

Wenn die Maschinen, die die Menschen so im Lauf der Zeit erfunden haben, nun auch noch funktionierten: Was wäre das für ein angenehmes Leben!

Langweilig ist noch nicht ernsthaft.

Jede Glorifizierung eines Menschen, der im Kriege getötet worden ist, bedeutet drei Tote im nächsten Krieg.

Erwarte nichts. Heute: Das ist dein Leben.

Er kaufte sich eine Hundepeitsche und einen kleinen dazugehörigen Hund.

Der Angestellte lebt von seinem kärglichen Gehalt sowie von der durch nichts zu erschütternden Überzeugung, dass es ohne ihn im Betriebe nicht gehe.

Liebe ist, wenn sie dir die Krümel aus dem Bett macht.

Der schönste Augenblick am Tag ist doch der, wo man morgens unter der Brause hervorkriecht und das Wasser von einem abtropft. Was dann noch kommt, taugt eigentlich nicht mehr viel.

Die stupide Anschauung Ernst Jüngers, Kampf sei das Primäre, das Eigentliche, wofür allein zu leben sich verlohne, steht auf ähnlichem Niveau wie die eines falschen Friedensfreundes, der jeden Kampf verabscheut und für Kamillentee optiert. Weder ewiger Kampf ist erstrebenswert noch ewige Friedfertigkeit. Nur Krieg … das ist eine der dümmsten Formen des Kampfes, weil er von einer recht unvollkommenen Institution und für sie geführt wird.

Mit dem nackten Körper stets den Begriff der Erotik verbinden: Das ist ungefähr so intelligent, wie beim Mund stets an Essen zu denken. Mit dem Mund isst man nicht nur; man spricht auch mit dem Mund. Durch die nackte Haut atmet man.

Die ausgewählten »Schnipsel« erschienen in der »Weltbühne« in den Jahren 1931 und 1932.

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