- Politik
- Budapest-Komplex
Hanna S. soll neun Jahre ins Gefängnis
Erster deutscher Prozess zum »Budapest-Komplex« endet bald – mit martialischer Forderung
Im Prozess gegen Hanna S. vor dem Oberlandesgericht (OLG) München hat die Bundesanwaltschaft am Montag eine Freiheitsstrafe von neun Jahren gefordert. Sie soll wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt werden, so das Plädoyer. Ursprünglich verortete die Anklage die besagte Gruppe von bis zu 20 Personen im Umfeld des sogenannten Antifa-Ost-Komplexes in Deutschland. Inzwischen heißt es, diese sei für Taten in Budapest gegründet worden – die Bundesanwaltschaft sprach dazu von »Gewalttourismus«.
Der Prozess in München war der erste zum sogenannten »Budapest-Komplex« in Deutschland. Die Justiz wirft der Kunststudentin S. vor, anlässlich des rechtsextremen »Tags der Ehre« im Februar 2023 in der ungarischen Hauptstadt bei zwei von fünf Angriffen auf mutmaßliche Neonazis beteiligt gewesen zu sein. Die Opfer hätten von Schlagstöcken Kopfverletzungen davongetragen – in einem Fall potenziell tödliche, meint die Bundesanwaltschaft. Da neben den Angegriffenen auch sechs Passant*innen Pfefferspray abbekommen hätten, könnte S. auch hierzu wegen Körperverletzung verurteilt werden.
Hanna S. wurde im Mai 2024 in Nürnberg festgenommen, ihr Prozess begann im Februar mit fünf Richter*innen. Zwei der in Budapest Angegriffenen wurden gegen S. als Nebenkläger*innen zugelassen – sie werden unter anderem von einer Anwältin des NSU-Terroristen Ralf Wohlleben vertreten und plädierten ebenfalls am Montag. Im Prozess ging es um die Schwere der ihnen mit einem Teleskopschlagstock zugefügten Verletzungen.
»Ich erinnere mich an keinen Todesfall durch Einwirkung eines Schlagstockes.«
Wolfgang Eisenmenger Sachverständiger
Die Anklage hatte dazu den pensionierten Rechtsmediziner Wolfgang Eisenmenger geladen, der über seine früheren Versuche mit vergleichbaren Schlagwerkzeugen und einem mit Schweinehaut überzogenen Metallschädel vortrug. »Ich erinnere mich an keinen Todesfall durch Einwirkung eines Schlagstockes«, sagte Eisenmenger zu seinen 20 000 durchgeführten forensischen Untersuchungen. Die Verteidigung wies am vorletzten Prozesstag darauf hin, dass Teleskopschlagstöcke aus Aluminium, wie sie in Budapest verwendet worden sein könnten, auch deutlich geringere Verletzungen verursachten, die Vergleiche mit dem Metallschädel und Schweinehaut hierzu also nicht übertragbar seien.
Auf Hanna S. will das Landeskriminalamt in Sachsen – das in den Ermittlungen federführend ist – auch über ein überzogenes Graffiti-Verfahren aus Nürnberg gekommen sein. Für den Prozess waren verschiedene Zeug*innen und Sachverständige geladen, darunter eine freie Kulturwissenschaftlerin, die über die ungarische Rechte und ihre Verbindungen zum Staat vortrug.
In den über 30 Verhandlungstagen sollte der Nachweis geführt werden, dass S. mit einer auf Bildmaterial aus Budapest dokumentierten »Unbekannten Weiblichen Person 15« identisch ist. Dazu wurden vor dem OLG stundenlange Videos aus Straßenbahnen und Dashcams aus Fahrzeugen abgespielt, außerdem von privaten Kameras, die an Eingängen einer Airbnb-Wohnung und einem Café in Budapest montiert waren.
Ausgesagt hat auch der Forensik-Wissenschaftler Dirk Labudde, der die Angeklagte gegen ihren Willen biometrisch vermessen hat, um sie Aufnahmen aus der öffentlichen Videoüberwachung zuordnen zu können. Eine Super Recogniserin der Polizei, die das Material ebenfalls verglichen hat, konnte das Gericht nicht überzeugen.
Yunus Ziyal, einer der Anwälte von Hanna S., hält den Vorwurf des versuchten Mordes für völlig übertrieben. Auch ihre Anwesenheit in Budapest sei nicht nachgewiesen worden. Die im Prozess eingebrachten Gutachten wie etwa der Biometrie-Vergleich Labuddes seien wissenschaftlich nicht validiert und deshalb ungeeignet, Beschuldigte zu identifizieren, sagt Ziyal »nd«. Auch der Münchner Solikreis für Hanna S. stellt fest: »Lediglich Indizien sollen dazu ausreichen, eine Antifaschistin für ein knappes Jahrzehnt wegzusperren.«
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
»Eine Haftstrafe von neun Jahren steht in keinem angemessenen Verhältnis zum Geschehen«, erklärte Martin Schirdewan, Vorsitzender der Fraktion The Left im Europäischen Parlament, am Montag. Dass der Prozess vor einem Gericht geführt wurde, das für Terrorismus- und Staatsschutz zuständig ist, sei eine »Vorverurteilung«. Ähnlich äußerte sich auch die Rote Hilfe: Weiterhin werde »von Seiten des Staates eskaliert und Antifaschismus als Feindbild zementiert, dämonisiert und kriminalisiert«, erklärte der Bundesvorstand.
Montag kommende Woche hält die Verteidigung am OLG München ihre Plädoyers. Das Urteil soll am 26. September verkündet werden.
Im Mai erhob die Bundesanwaltschaft außerdem Anklage gegen sieben weitere Antifaschist*innen, von denen einige auch an Taten in Budapest beteiligt gewesen sein sollen. Im Juli folgte die Anklage gegen sechs angeblich Beteiligte an den Vorfällen. Sie hatten sich im Januar beziehungsweise März der Polizei gestellt und sitzen seitdem in verschiedenen Bundesländern ebenfalls in Untersuchungshaft.
Die Verfahren sollen am OLG Düsseldorf und Dresden stattfinden – noch ist die Anklage aber nicht zugelassen. Eine siebte Person aus der letzten Anklagewelle – der syrische Staatsangehörige Zaid A. – soll nach seiner Selbststellung für einen Prozess nach Ungarn ausgeliefert werden, er erhielt als Einziger Haftverschonung.
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.